Schicksalstage für die Ukraine – und den Kanzler
In der Hauptstadt der Ukrainediplomatie
Das Regierungsviertel in Berlin gleicht auch heute einem Sperrgebiet. An den Straßen der Sicherheitszone stehen rot-weiße Absperrgitter, in vielen Gebäuden sollen die Fenster geschlossen bleiben. In der deutschen Hauptstadt wird um einen Weg zu einem dauerhaften Frieden in der Ukraine gerungen.
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj verließ gestern Abend das Kanzleramt. Fünfeinhalb Stunden hatte er mit den amerikanischen Unterhändlern Steve Witkoff und Jared Kushner im kleinen Kabinettssaal zusammengesessen. Man habe vereinbart, die Sitzung für den Abend zu beenden, teilte Selenskyjs Berater Dmytro Lytwyn mit. Die Gespräche sollen heute weitergehen.
Es war das erste direkte Aufeinandertreffen von Selenskyj mit den US-Unterhändlern, seit er am Mittwochabend eine zusammen mit den Europäern abgestimmte Version des Friedensplans nach Washington übermittelt hatte; Bundeskanzler Friedrich Merz hatte die Delegationen in seinem Amtssitz willkommen geheißen, an den Gesprächen selbst aber nicht teilgenommen.
Vor allem bei den Sicherheitsgarantien und dem Umgang mit russischen Forderungen, die Ukraine müsse den Donbass im Osten komplett aufgeben, ist noch viel Arbeit nötig, wie es in Diplomatenkreisen heißt. Selenskyj hatte vor Beginn der Gespräche angedeutet, dass er einen Waffenstillstand entlang der derzeitigen Front als fair ansieht. Aber nicht ohne Weiteres bereit ist, Territorium aufzugeben – auch nicht für eine demilitarisierte Zone, wie sie die Amerikaner vorgeschlagen hatten.
Er wird heute im Kanzleramt eine Reihe europäischer Staats- und Regierungschefs treffen und ihnen bei einem Abendessen berichten, wie die Dinge stehen. Merz hat dazu eingeladen. Auch für ihn steht einiges auf dem Spiel (mehr hier ).
»Für Merz und die Europäer geht es darum, angesichts des amerikanischen Drucks ein Zeichen der Solidarität mit der Ukraine und Präsident Selenskyj zu setzen und auch klarzumachen, dass sie einbezogen werden müssen in den Friedensprozess«, sagt mein Kollege Paul-Anton Krüger aus dem SPIEGEL-Hauptstadtbüro. Wichtiger dafür ist allerdings fast noch der EU-Gipfel Ende der Woche. »Wenn es Merz dort gelingt, seinen Plan für ein Reparationsdarlehen für die Ukraine durchzusetzen, stärkt das nicht nur Selenskyjs Verhandlungsposition, dann haben auch die Europäer gegenüber Moskau und Washington etwas in der Hand.«
Mehr Hintergründe hier: Ukrainegespräche vorerst beendet
Der Horror von Bondi Beach
Für das Entsetzen gibt es kaum Worte. Am australischen Bondi Beach, Ausflugsziel für Einheimische und Sehnsuchtsort für Surfer und Touristen aus aller Welt, sind am Sonntag mindestens 15 Menschen getötet worden. Weitere 40 werden im Krankenhaus behandelt. Einer der Täter soll ebenfalls tot sein.
Nach Angaben von Ermittlern handelte es sich um einen gezielten Angriff auf jüdische Menschen, die den Auftakt des Chanukkafests feierten. Um Terror also, eine antisemitische Tat. Alex Ryvchin, einer der Leiter des Exekutivrats der jüdischen Gemeinde in Australien, sagte dem Sender Sky News: »Wenn wir auf diese Weise gezielt angegriffen wurden, dann hat das ein Ausmaß, das sich keiner von uns je hätte vorstellen können.«
In einem Park an der Campbell Parade fand am Sonntag das Fest »Chanukah by the Sea« statt, pünktlich zum Start des achttägigen jüdischen Lichterfestes. Hunderte Menschen hatten sich dafür versammelt, als die beiden Attentäter das Feuer eröffneten (mehr hier ). Die Polizei gab inzwischen bekannt, dass es sich um Vater und Sohn gehandelt haben soll.
Der Schock sitzt tief. In Australien und weltweit. Bundeskanzler Merz schrieb bei X: »Dies ist ein Angriff auf unsere gemeinsamen Werte. Diesem Antisemitismus müssen wir Einhalt gebieten – hier in Deutschland und weltweit.« Wie verschiedene Medien berichten, soll auch der Holocaustüberlebende Alex Kleytman bei dem Attentat getötet worden sein (mehr dazu hier).
Mehr Hintergründe hier: Rekonstruktion der Bluttat von Bondi – mehr als hundert Schüsse in sechs Minuten
Warum Sie künftig mehr an die Sozialkassen zahlen
Das wenige, was vom Herbst der Reformen übrig blieb, wird in dieser Woche in der Hauptstadt verhandelt. Viel Zeit bleibt nicht bis zu den Feiertagen. Der Bundestag startet in die laut Planung letzte Sitzungswoche, am Freitag tagt der Bundesrat. Was in der Sozialpolitik zur Debatte steht, ist entweder zu mutlos – oder geht in die falsche Richtung. Ich kann mich kaum entscheiden, was schlimmer ist.
Beim Bürgergeld hat sich das Kabinett im Zwist um die Pläne von Arbeitsministerin Bärbel Bas (SPD) verheddert (mehr hier ). Bei der Pflege blieb die Kommission, die Vorschläge für eine Reform vorlegen sollte, reichlich unverbindlich. Und bei der Rente wird der Bundesrat am Freitag voraussichtlich eine Reform abnicken, die vorwiegend der jungen Generation Lasten in dreistelliger Milliardenhöhe aufdrückt (mehr hier ).
Umso brisanter ist die Tatsache, dass die Zahl der Menschen im erwerbsfähigen Alter schrumpfen wird. Laut neuen Berechnungen des Statistischen Bundesamtes könnten es im Jahr 2070 rund zehn Millionen weniger sein. Klingt weit weg, ist aber relevant: Wenn weniger Menschen Beiträge einzahlen, geraten die Sozialversicherungssysteme unter Druck. Wie sehr die Beiträge für Rente, Gesundheit oder Pflege von der Zahl der Beschäftigten abhängen, zeigt ein Recherche- und Datenprojekt eines SPIEGEL-Teams.
Spannende Erkenntnis: Bis 2050 müssen die Sozialbeiträge möglicherweise auf insgesamt 53 Prozent des Bruttolohns steigen. Es gab Politiker, die die zumutbare Grenze vor nicht allzu langer Zeit bei maximal 40 Prozent gesehen hatten. Einer von ihnen hieß Jens Spahn.
Das ganze Projekt finden Sie hier: So drastisch wird der Schwund an Beitragszahlern – und so dramatisch die Folgen
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Trump verlangt das letzte Wort, aber das liegt beim Publikum: Der amerikanische Präsident mischt bei der Übernahme um Warner Brothers kräftig mit. Es geht um die Macht darüber, was wir sehen – nicht nur in den USA, sondern auch in Deutschland .
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Gewinnerinnen des Tages…
…sind die Spielerinnen der Handball-Nationalmannschaft – auch wenn sie gestern Abend im Finale der Weltmeisterschaft mit 20:23 gegen Favorit Norwegen verloren haben. Ja, die Niederlage tut weh. Aber die Leistung bleibt. Bei dieser WM haben die deutschen Handballerinnen gespielt wie im Rausch. Seit dem dritten Platz bei der WM 2007 war die Nationalmannschaft nicht mehr über das Viertelfinale hinausgekommen. Jetzt hinterließen sie einen Eindruck, der beinahe so glänzt wie Gold.
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Heute bei SPIEGEL Extra: Konzern verlassen, Abfindung mitgenommen – und jetzt richtig glücklich
Unter Sparzwang suchen Firmen oft Mitarbeiter, die freiwillig gehen. Drei langjährige Angestellte von Bosch, der Commerzbank und Mercedes erzählen, warum sie sich gemeldet haben und wie ihnen der Neustart gelungen ist .
Ich wünsche Ihnen einen guten Start in den Tag.
Ihre Cornelia Schmergal, Ressortleiterin Wirtschaft
Witkoff, Selenskyj und Merz bei ihrem gestrigen Treffen im Kanzleramt
Foto: Guido Bergmann / Presse- und Informationsamt der Bundesregierung / dpaVerzweiflung nach dem Terrorattentat am Bondi Beach
Foto: David Gray / AFPBeitragszahlende: Beschäftigte einer Handwerksbrauerei
Foto: Unai Huizi / imageBROKER / picture allianceHandball-Nationalmannschaft in Rotterdam
Foto: Piroschka Van De Wouw / REUTERS