Die harten Zeiten für die Grünen kommen erst noch
Wer sich in diesen Tagen als Grüner outet, hat es schwer. Vielen in der Gesellschaft gelten ihre Vertreterinnen und Vertreter als Besserwisser und akademische Welterklärer, die mit gut situierten Jobs sich moralische Überheblichkeit leisten können.
Knapp ein dreiviertel Jahr nach der Bundestagswahl sind die Grünen nach wie vor in einer herausfordernden Lage. Ihr Markenkern wurde in der Ampelregierung durch das Heizungsgesetz schwer beschädigt, ihr Kernthema Klimaschutz – auf dem Bundesparteitag in Hannover breit debattiert – spielt in Umfragen derzeit keine Rolle.
Die Ausgangslage ist hart. In Teilen der Gesellschaft sind sie geradezu verhasst. Im Osten droht im kommenden Jahr bei den Landtagswahlen in Sachsen-Anhalt und Mecklenburg-Vorpommern der Rauswurf aus den Parlamenten.
Auch sonst sieht es im kommenden Jahr nicht gut aus. In Rheinland-Pfalz, wo im März auch gewählt wird, dürfte es keine Fortsetzung der Ampelkoalition mehr geben, in Berlin liegt die Linke bei Umfragen zur Abgeordnetenhauswahl derzeit vor den Grünen.
Özdemir kämpft um die Mitte
In Baden-Württemberg wiederum kämpft Cem Özdemir darum, die grüne Mehrheit und Regierungsfähigkeit zu halten, mit einem pragmatischen Wahlkampf, der in die bürgerliche Mitte hinausgreift und auch die Fließbandarbeiter bei Mercedes im Blick hat. Özdemir inszeniert sich mitunter wie ein Einzelkämpfer, der Abstand zur eher linken Bundespartei hält.
Auf dem Parteitag wurde er gefeiert, noch bevor er seine Rede begonnen hatte, was der 59-Jährige mit der ironischen Wendung belegte, sie wüssten doch noch gar nicht, was er sagen wolle.
»Sprech und Denkverbote«, so ein Satz aus seiner Rede, »gibt es für mich nicht.« Man gewinne Wahlen nicht mit »radikalen Sprüchen« oder Sätzen aus dem »Wolkenkuckucksheim«, rief er den Delegierten zu. Und: Warum mache es sich seine Partei so schwer, fragte er und gab die Antwort: »Weil wir nicht die wichtigen Debatten führen, die da draußen geführt werden.« Es waren umjubelte Sätze, zumindest bei jenen, die es ähnlich sehen. Die anderen schwiegen. Man wollte in Hannover den Wahlkämpfer nicht beschädigen, das war klar erkennbar.
Aber was folgt aus Özdemirs Mahnung? Zu oft scheuen Grüne Themen, die heikel sind – wie bei der Migration. Özdemir, Kind türkischer Eltern, ist da eine Ausnahme – und wurde dafür in der Vergangenheit in den eigenen Reihen kritisiert oder schlimmer noch – einfach ignoriert.
Die Angst vor der Linkspartei
Die Zuwächse an Mitgliedern, die auch auf das Konto des einstigen Kanzlerkandidaten und Realo-Vertreters Robert Habeck gingen, täuschen über die Schwäche hinweg, in der die Partei steckt. In der Opposition haben die Grünen Mühe, wahrgenommen zu werden. Vor allem die schrill-extreme Linkspartei setzt ihr zu, bei jüngeren Wählerinnen und Wählern.
In Teilen der Grünen gibt es die Sehnsucht, härter aufzutreten, was viele mit »links« übersetzen. Aber dieser Platz ist besetzt, die Grünen sind gefangen in ihrer jüngeren Geschichte als pragmatische Regierungspartei. Dieses Erbe müssen sie pflegen, nicht ablegen. Mit kluger Oppositionspolitik, nicht lautem Getöse für die Social-Media-Welten. Wie das intern geht, zeigte die kluge Regie hinter den Kulissen von Co-Parteichefin Franziska Brantner und anderen, eine womöglich emotionale Nahost-Debatte in vernünftige Bahnen zu lenken .
In Hannover wurde klar: Eine Partei, die wie die Grünen sich seit ihrer Gründung zu einer verantwortungsbewussten Partei und Stütze der demokratischen Ordnung dieses Landes gehäutet hat, sucht ihre Rolle in einem neuen, schwierigen Lebensabschnitt. Das dürfte ein langer Prozess werden.
Beispielhaft stand auf dem Bundesparteitag in Hannover der Co-Vorsitzende Felix Banaszak, Vertreter des linken Flügels, der einen Akzent zu setzen suchte: Er sprach darüber, wie er als junger Mann seinen Führerschein machte, sich ein Auto zulegte, er thematisierte die Kosten, die Menschen mit geringem Einkommen durch die Transformation der Wirtschaftswelt zugemutet werden.
Er zeigte Verständnis für Menschen, die nichts mit dem Vorwurf der »Flugscham« anfangen können und sich das Recht auf einen hart ersparten Urlaub auf Mallorca nicht nehmen lassen wollen. Es gebe keinen Widerspruch zwischen »Geradlinigkeit und Erfolg«, so der Co-Parteichef. »Links« sei in diesen Zeiten für ihn kein Schimpfwort.
Der 36-jährige Grüne, in Duisburg in eher bescheidenen Verhältnissen aufgewachsen, versuchte sich als Aufsteigerkind mit offenen Ohren und Augen für die Mehrheitswelt der Nicht-Grünen zu inszenieren.
Rückfälle in die Welt grüner Wünsch-dir-was-Kataloge
Das ist ehrenwert, doch aus solch einer Lebensgeschichte wird noch keine Prägung für eine Partei, die lebensweltlich vor allem auch aus akademischen und studentischen Kreisen entstand und weiter genährt wird. Vom lange geträumten Traum einer Volkspartei sind die Grünen meilenweit entfernt, sie bleiben eine Partei für eine Minderheit dieser Republik.
Nicht gefeit ist die Partei vor Rückfällen in die Welt grüner Wünsch-dir-was-Kataloge: In Hannover wurde, entgegen dem Willen des Bundesvorstandes, die Rückkehr zum 9-Euro-Ticket im öffentlichen Nahverkehr mit deutlicher Mehrheit verabschiedet. Es war ein Antrag der Grünen Jugend, die oft wie die Ausgabe einer linksradikalen Nebenpartei wirkt.
Wie ein solches Ticket bezahlt werden soll, darauf gaben sie keine plausible Antwort. Mit Frage nach der Finanzierung des 9-Euro-Tickets dürfen sich nun grüne Wahlkämpferinnen und Wahlkämpfer vor Ort herumschlagen, von denen manche unter der Hand von einem »verrückten Beschluss« sprachen.
Ausweichen ist kein Rezept
In der Opposition müssen die Grünen aufpassen, nicht mutlos aus Angst vor der Linkspartei zu werden. Nach dem Überfall Russlands auf die Ukraine forcierten sie in der Ampelkoalition Waffenlieferungen an Kyjiw. Es war ein richtiger Schritt, entstanden aus der Notwendigkeit der Regierungspraxis und einem Verantwortungsbewusstsein für die Sicherheit der Ukraine und Europas. Daran hatten in der Ampelzeit nicht zuletzt Realo-Vertreter und die Minister Annalena Baerbock und Robert Habeck ihren Anteil, aber auch Streiter vom linken Flügel wie Anton Hofreiter. Diese Klarheit findet sich auch in einem verabschiedeten außenpolitischen Antrag in Hannover wieder.
Doch auf einem anderen Feld der Sicherheitspolitik bleiben die Grünen vorerst stecken. Den Krieg in der Ukraine führen die Ukrainer, aber was ist mit der eigenen Verteidigungsfähigkeit Deutschlands?
Der Versuch, die Partei in Sachen Wehrdienst um Zentimeter nach vorn zu schieben, tauchte zwar in Hannover in der Debatte auf. Aber ein Antrag für eine gesellschaftliche Dienstpflicht für Männer und Frauen bis 28 Jahren wurde gar nicht erst zur Abstimmung gestellt. Das Thema soll immerhin intern weiter besprochen werden.
Eine Mehrheit hätte diese beherzte Forderung wohl nicht erhalten. Zu stark waren schon die Vorbehalte, die Redner gegen eine verpflichtende Musterung männlicher Jahrgänge in Hannover äußerten: mit einem Misch-Wortvokabular der Friedensbewegung der Achtzigerjahre (»Kanonenfutter«) und dem Verweis auf das Recht einer individuellen Selbstverwirklichung, wie es eigentlich bei der FDP gepflegt wird.
In Hannover wurde immerhin ein Kompromiss des Bundesvorstandes verabschiedet, der der Partei und Bundestagsfraktion Beinfreiheit verschafft: die Möglichkeit einer verpflichtenden Musterung junger Männer für die Bundeswehr tragen die Grünen mit, halten aber an der Freiwilligkeit zum Dienst bei der Truppe fest. Ein weicherer Antrag der Grünen Jugend fiel durch.
Die Wirklichkeit wird zeigen, wie lange die Grünen ihren Kurs durchhalten können. Vorerst muss die Große Koalition mit ihrem Wehrdienst-Gesetz zeigen, ob mehr Männer (und Frauen) sich freiwillig zur Truppe melden. Die Grünen sind zunächst fein raus, aber das entbindet sie nicht von einer eigenen Standortsuche.
Mehr ist im Moment bei den Grünen nicht möglich. Sie wollen irgendwie unfallfrei durch die Oppositionszeit kommen. Das aber wird nicht ausreichen. Gerade von den Grünen darf erwartet werden, dass sie auch auf anderen Gebieten Antworten finden. Das ist eigentlich ihr Selbstanspruch.
Wenn die Partei über ihre Kernklientel hinauswachsen will, muss sie mutiger werden. Debattieren, Streit suchen. Grüne, die sich ängstlich wegducken, schaffen sich die Probleme, die sie in der Regierung dann doch zu lösen haben.
Wie man es nicht macht, dafür müssen die Grünen nur auf die Große Koalition blicken. An CDU, CSU und SPD können sie wöchentlich ablesen, wie diese mit der Bewältigung einer Wirklichkeit kämpfen, die lange ignoriert wurde.
Grünen-Parteichefs Franziska Brantner und Felix Banaszak in Hannover: Bewährungsprobe
Foto: Michael Matthey / dpa