Startrampe defekt – Russland kann derzeit keine Menschen ins All bringen
Russlands Raumfahrtprogramm hat ein Problem. Dieses Problem ist aus Metall, viele Tonnen schwer und liegt offenbar kopfüber am Boden des Startkomplexes 31/6 am Weltraumbahnhof Baikonur in Kasachstan. Beim erfolgreichen Start zweier russischer Kosmonauten und eines US-Astronauten zur Internationalen Raumstation (ISS) am Donnerstag hat die Rakete der Mission Sojus MS-28 die dortigen Anlagen schwer beschädigt.
Da es sich um Russlands einzige Startrampe für die Flüge von Menschen ins All handelt, dürften die Auswirkungen des Vorfalls beträchtlich sein. Bis die Schäden repariert sind, ist Russland nicht in der Lage, Raumfahrerinnen und Raumfahrer zu befördern. So etwas hat es seit mehr als 60 Jahren nicht gegeben.
Auch der Start von unbemannten Progress-Frachtern zur ISS ist damit zurzeit nicht möglich. Die Versorgungsraumschiffe sind nicht nur wichtig, um die Station mit Lebensmitteln und Ausrüstungsgegenständen zu versorgen. Sie heben regelmäßig auch die Bahn der ISS wieder an – sonst würde es früher oder später zu einem unkontrollierten Absturz kommen.
Plattform womöglich nicht richtig fixiert
Von dem Schaden konkret betroffen ist eine mehrstöckige, bewegliche Wartungsplattform an dem im Jahr 1960 fertiggestellten Startplatz. Diese erlaubt Technikern den Zugang zum unteren Bereich der Rakete. Das ist unter anderem nötig, um Treibstoff in die Tanks füllen zu können.
Rund eine Stunde vor dem Abheben wird die Plattform üblicherweise auf Schienen beiseite gefahren, damit sie nicht vom heißen Abgasstrahl der Rakete beschädigt wird. Das ist, wie es aussieht, beim Start von Sojus MS-28 am Donnerstag auch passiert. Allerdings, so spekuliert unter anderem der in den USA lebende Raumfahrtexperte Anatoly Zak, hat sich die Plattform beim Start wohl aus ihrer Parkposition gelöst – womöglich weil sie nicht richtig fixiert war.
Was folgte, war der Sturz in den sogenannten Flammengraben, der den heißen Abgasstrahl und die von den Raketenmotoren erzeugten Vibrationen beim Start ablenkt. So sollen weder Rakete noch Startanlagen Schaden nehmen. Die genaue Tiefe des Flammengrabens am Startplatz 31/6 in Baikonur war zunächst nicht bekannt. Sie dürfte aber deutlich jenseits von zehn Metern liegen. Filmaufnahmen, die nach dem Start veröffentlicht wurden, zeigen die beschädigten Überreste der Plattform.
Inoffiziell würden »Verstöße gegen Betriebsvorschriften«, die auf die »zunehmend mangelhafte Instandhaltung der Anlage« zurückzuführen seien, für den Einsturz verantwortlich gemacht, schreibt der Raumfahrtexperte Zak auf seiner Seite »Russian Space Web «, allerdings ohne weitere Belege.
Russlands Raumfahrtbehörde Roskosmos hat zunächst nur in einer kurzen Mitteilung über den Vorfall berichtet. Bei einer Inspektion nach dem Start habe man »Schäden an mehreren Elementen der Startrampe festgestellt«. Derzeit werde der Zustand der Anlage bewertet. Für die Reparatur seien »alle erforderlichen Ersatzteile vorhanden«. Die Schäden würden »in Kürze« behoben sein.
Doch ganz einfach wird die Sache nicht werden. Zunächst einmal müssen die Trümmer der Struktur geborgen werden. Dann müsste eine neue Plattform installiert werden. Russland hat mehrere inaktive Startplätze für Sojus-Raketen – unter anderem die legendäre Rampe 1/5 in Baikonur, von der aus Juri Gagarin, der erste Mensch im All, am 12. April 1961 gestartet war.
Gagarins Starplatz wurde noch bis zum September 2019 genutzt. Seither fliegt Russland aber eine Version der Sojus-Rakete, die ohne in der Ukraine hergestellte Komponenten auskommt. Diese Rakete passt aber nicht mehr in die Anlagen der historischen Startrampe, die deswegen in ein Museum umgewandelt werden soll.
Auch an den Weltraumbahnhöfen Plesetsk und Wostotschnyj gibt es Sojus-Startrampen, die aber nicht für astronautische Flüge vorgesehen sind. Womöglich ließe sich Ersatz von dort organisieren, um Starplatz 31/6 zu reparieren – auch wenn der Transport der schweren Komponenten sicher komplex wäre.
Nächster Flug verschoben
Einen weiteren Sojus-Startplatz hatten die Russen am europäischen Weltraumbahnhof Kourou eingerichtet. Nach der Vollinvasion der Ukraine im Februar 2022 wurde die Kooperation aber beendet, Russland hat keinen Zugang mehr zu dem Gelände in Französisch-Guayana.
Der nächste Start von der nun beschädigten Anlage in Baikonur war für Dezember vorgesehen. Da sollte der unbemannte Raumfrachter »Progress MS-33« Versorgungsgüter auf die ISS bringen. Diesen Flug haben die Russen jetzt auf unbestimmte Zeit verschoben. Der nächste Astronautentransport von Baikonur war ohnehin erst für den Sommer 2026 geplant. Um Geld zu sparen, hatte Russland zuletzt die Zahl der Flüge zur Raumstation gekürzt, auf nurmehr drei innerhalb von zwei Jahren.
Russland hatte über fast neun Jahre das Monopol für den Transport von Menschen zur ISS, nachdem die USA ihre Flotte an Spaceshuttles im Sommer 2011 in Rente geschickt hatten. Im Zuge der geopolitischen Spannungen nach der russischen Annexion der Krim 2014 hatte der russische Vizepremier und spätere Roskosmos-Chef Dmitrij Rogosin gewitzelt, die Amerikaner müssten ohne die Russen »mit dem Trampolin« zur ISS fliegen.
Tatsächlich blieb die Partnerschaft aber durchgängig bestehen. Inzwischen fliegen auch russische Kosmonauten mit Nasa-Kollegen in den Dragon-Raumschiffen von Elon Musks Weltraumfirma SpaceX.
Ansonsten würde Russland das sprichwörtliche Trampolin nun einstweilen selbst benötigen. Durch den aktuellen Ausfall der Startanlagen in Baikonur liegt die komplette Verantwortung für den Transport von Raumfahrerinnen und Raumfahrern sowie die Versorgung der Station im Prinzip komplett bei SpaceX.
Rakete beim Start: Auswirkungen des Vorfalls beträchtlich
Foto: Pavel Mikheyev / REUTERSSojus-Besatzung Sergej Mikajew (Russland, oben), Chris Williams (USA, mitte), Sergei Kud-Swertschkow (Russland, unten): Partnerschaft blieb durchgängig bestehen
Foto: Maxim Shipenkov / EPA