Miron Maiden – oder wie Schalke mit Metal-Fußball zurück in die Erfolgsspur fand

Nikola Katić bekam einen Freistoß im eigenen Sechzehner zugesprochen. Das war Grund genug für ihn, in der Nachspielzeit einfach komplett auszurasten. Der bosnische Verteidiger des FC Schalke stampfte in Richtung der Fans, ballte und schleuderte die Fäuste, schrie Kinski-esk, seine Mitspieler sprangen auf ihn, Fans warfen freudebeseelt Bierbecher umher. Und Katić versuchte im Taumel nach dem Freistoß-Aphrodisiakum tatsächlich, die anfliegenden Bierbecher aus der Luft volley zu nehmen.

Kurz danach ertönte der Abpfiff auf Schalke, 2:1 nach 0:1, Katić sprang obligatorisch mit einer Art Köpper aus dem Stand auf den aufgewühlten Rasen, Werbebanden flogen wie Luftschlangen im Pogo der Mannschaft, und manche Spieler nahmen ihre Kinder von der Tribüne in Empfang und tanzten mit ihnen auf dem Rasen.

Ist es ein Finale? Nein, es ist der 14. Spieltag gegen Paderborn

Spätestens an dieser Stelle musste noch einmal kurz nachgeschaut werden, dass es sich hier um den 14. Spieltag der Zweiten Bundesliga zwischen Schalke 04 und dem SC Paderborn handelte. Und dass man also nicht versehentlich in ein Endspiel geraten war, mit dem Katić und Kollegen wahlweise das Ruhrgebiet oder gleich den kompletten Planeten retten mussten.

Schalke 04 ist Tabellenführer der Zweiten Bundesliga. Nur ein halbes Jahr, nachdem der Klub dem Abstieg in die Dritte Liga und damit womöglich dem finanziellen Kollaps entronnen war, seinerzeit begleitet von zynisch applaudierenden Fans, die ein Banner hissten: »Schöne Sommerpause, ihr Versager!« Jetzt versammeln sich alle hinter einem anderen Banner: »Fans und Verein gemeinsam!«

Die Szenen um Katić und Co. stehen für Schalkes Metamorphose: Denn das Team spielt in fast jeder Partie wie in einem Endspiel. Sie grätschen, sie laufen, sie gehen ins Gegenpressing; sie spielen nicht immer schön, aber laut, intensiv, schwitzend und im Dauer-Pogo. Die Schalker Knappen sind zu einer Metal-Band geworden, in Anlehnung an den Frontmann quasi zu »Miron Maiden«.

Miron Muslić ist seit Sommer Trainer des Revierklubs. Vorher ist er mit dem englischen Zweitligisten Plymouth Argyle abgestiegen. Kein noch so großer Fußballnerd muss sich grämen, wenn er noch im Frühjahr weder Muslić kannte noch Plymouth.

Wohl aber Frank Baumann, der Sportvorstand von Schalke, wusste alles. Baumann holte sich Expertenrat zu Muslić von Scouts, Psychologen, Medienfachleuten, ehemaligen Spielern und Co-Trainern ein. Das alles ist Teil einer neuen Strategie von Schalke, für jeden Neuen klare, auf den Verein zugeschnittene Profile zu erstellen. Der Klub arbeitet dabei auch mit der KI-App »Statslibuda« (in Anlehnung an den großen Spieler Stan Libuda). Auf der Trainerbank hätten die Königsblauen kaum einen Besseren in ihrer Situation finden können.

»In dem Fall kann er schon mal durchdrehen«

»Der Trainer lebt unsere Art vor«, sagte Mittelfeldakteur Ron Schallenberg am Freitag in den Katakomben. Wie das genau passiere? »Am Seitenrand jubelt er nach Grätschen und gelungenen Verteidigungssituationen. Im Training legt er brutal Wert darauf, dass kein Schlendrian reinkommt oder beispielsweise mit der Hacke geklärt wird. In dem Fall kann er schon mal durchdrehen.«

Ein aktuelles Beispiel für die gewissenhafte Trainingsarbeit ließ sich unter der Woche in Gelsenkirchen beobachten. Da ging Muslić ins Einzeltraining mit dem Außenverteidiger Vitalie Becker, er ließ sich Flugball um Flugball zuspielen, um dem Youngster die Kniffe der Luftzweikämpfe nahezubringen – und Muslić zog voll durch.

Warum das Ganze? Nun, in der ersten Halbzeit des Spiels am Freitag überbrückte Paderborn das Schalker Pressing zunächst mit einem Pass auf links, gefolgt von einem hohen Diagonalball auf die andere, auf Beckers Seite. So entstand unter anderem das 1:0 für die Gäste aus Ostwestfalen.

Auf SPIEGEL-Nachfrage zu dieser taktischen Feinheit sagte Muslić: »Wir haben es auf links schlecht verteidigt. Also haben wir zwei, drei Aktionen in der Halbzeit gezeigt, und die Jungs haben unsere Lösungsvorschläge angenommen. Das war der Schlüssel dafür, dass wir das Spiel gedreht haben.«

Muslić nur beliebt zu nennen, wäre untertrieben

Muslić macht sich auf Schalke auch als Inneneinrichter verdient. Er hat im Profizentrum die Worte anbringen lassen: »Aggressiv – intensiv – mutig«. In seinem Büro soll der Satz hängen: »Our job is not to keep them happy, our job is to keep them engaged.« Frei übersetzt: Wir sind nicht hier, um die Spieler glücklich zu machen, sondern damit sie eifrig bleiben.

Muslić beherrscht die feine Rhetorik, beginnt seine Ausführungen in Presserunden mal mit »Lieber Andi«. Schalke hat jetzt einen Trainer, der die Namen der Journalisten im Kopf behält. In der ersten Abstiegssaison hatten sie noch einen Trainer, der sich nicht mal die Namen der eigenen Spieler merken konnte.

Das alles führt zu einer besonderen Bindung, auch zu den Leuten im Ruhrgebiet. Muslić nur beliebt zu nennen, wäre untertrieben. Wenn er jetzt die Sparkasse in Gelsenkirchen ausrauben würde – der Bankdirektor würde ihm den Fluchtwagen volltanken.

Erfolgreiche Trainer auf Schalke von Ivica Horvat bis Huub Stevens müssen anscheinend – so wie Muslić das tut – immer auch Klarheit und Unerschütterlichkeit ausstrahlen, weil der Klub in einer gebeutelten Region selbst (finanziell) am Abgrund lebt.

Und von ihm mitunter erwartet wird, emotional den Strukturwandel, den Abstieg der SPD und den Stau auf der A40 aufzufangen. Für nicht wenige Spieler oder Trainer wirkte dieser Druck wie ein Mühlstein um den Hals, entlastet wurden sie wohl zu selten im Klub.

Schalke 04 hielt es zeitweise für eine gute Idee, als Fußballverein keinen Sportvorstand beschäftigen zu müssen. Diese Lücke wurde erst in diesem Sommer mit Frank Baumann gefüllt, der eben nicht nur mit dem Trainer, sondern auch mit nahezu allen neuen Spielern richtig lag.

Der angesprochene Katić kam vom FC Zürich. Der Mann neben ihm, Hasan Kuruçay, war zuvor vereinslos wie Torhüter Loris Karius gewesen – beide gehören nun zu den absoluten Stützen des Teams.

Nicht zu vergessen: Soufiane El-Faouzi, er wechselte vom Drittligisten Alemannia Aachen zum S04 und wird – so oder so – in der kommenden Saison Bundesligaspieler werden. Aufgrund seiner immensen Laufstärke passt für ihn die Abwandlung des Witzes, den sie bei Chelsea jahrelang über N’Golo Kanté erzählten: »71 Prozent der Erdoberfläche sind abgedeckt von Wasser, der Rest von Soufiane El-Faouzi.«

All diese Entdeckungen haben Baumann und sein Team getätigt. Doch der Vorstand spricht seinem Naturell gemäß sehr selten und meist leise. Extrovertierter ist da schon der Direktor Profifußball Youri Mulder, seines Zeichens Eurofighter von 1997, das ist in Gelsenkirchen ein Adelstitel wie in Großbritannien das Sir.

Aufstiegskandidat? »Das Wort nehme ich nicht in den Mund«

Mulder aber trat am Freitag vor die Pressevertreter und sagte zum Begriff Aufstiegskandidat: »Das Wort nehme ich nicht in den Mund. Es geht darum, dass man jeden Tag die Arbeit liefert. Du kennst das Blablabla, aber so ist es. Heute haben wir gearbeitet.«

Die Frage ist berechtigt: Kann diese Schalker Mannschaft aufsteigen? Mit dem bisherigen Punkteschnitt, mit dem Zusammenhalt zwischen Kurve und Mannschaft, mit den richtigen Kniffen des Trainers und mit der starken Defensive auf jeden Fall.

Die Herausforderung wird nur sein, ob sie die Tour als Hardrock-Band bis zum Ende durchspielen können. Schon jetzt häufen sich die Muskelverletzungen. Schon jetzt finden immer mehr Mannschaften Mittel, das offensive Attackieren der Schalker zu überlisten. Hertha hat wohl einen tieferen Kader, Hannover ein kreativeres Spiel, Darmstadt den besseren Angriff.

Mitunter entscheiden im Fußball jedoch Stimmungen ganze Spielzeiten. Daher eine letzte Szene aus den Gelsenkirchener Katakomben: Der Ex-Stürmer Mulder wurde noch gefragt, ob er das 2:1, einen gefühlvollen Heber, auch so geschossen hätte. »Ne, ich habe nie gelupft«, sagte er mit seinem breiten Lachen.

Dann rief er den Torschützen dieses 2:1 heran, der sich eigentlich ohne Kommentar wegstehlen wollte. Komm her«, rief Mulder, klatschte Applaus und stellte wie ein Moderator vor: »Hier ist Bryan Lasme.« Dieser Lasme, gerade von einer Verletzung zurückgekehrt, sprach ganz leise davon, dass er den Schuss im Training geübt hatte. Er genierte sich fast vor der Aufmerksamkeit.

Da war also eine Schalker Vereinslegende, die zurücktrat, um anderen die Bühne zu lassen. Und da war ein Held des Abends, dem das Ganze fast peinlich war.

Mehr muss man über das neue Schalke nicht sagen.

Schalkes Nikolai Katić im Zweikampf mit Steffen Tigges vom SC Paderborn

Foto: Joachim Bywaletz / HMB-Media / IMAGO

Schalker Spieler bejubeln den Heimsieg: »Der Trainer lebt unsere Art vor«

Foto: KROEGER / RHR-FOTO / IMAGO

Das könnte Ihnen auch gefallen