Salto rückwärts
Dies ist nur auf den ersten Blick eine Geschichte über die russische Turnerin Angelina Melnikova, die mit ihrem Start in Deutschland für Aufsehen sorgte.
Es ist viel mehr eine Geschichte, die etwas über Naivität deutscher Funktionäre erzählt und noch viel mehr darüber, wie in den großen Verbänden die Rückkehr Russlands in die Sportwelt vorbereitet wird.
Das Dogma, Russland außen vor zu lassen, solange der Angriffskrieg gegen die Ukraine fortdauert, es bröckelt nicht nur, es erodiert gerade.
Eine der weltbesten Turnerinnen
Vor drei Wochen verkündete der TSV Tittmoning-Chemnitz Außergewöhnliches: Für die entscheidenden Wettkämpfe der Saison, das Halbfinale der Deutschen Turnliga der Frauen in Esslingen und das Finale in Heidelberg (an diesem Wochenende), werde die Riege durch Angelina Melnikova verstärkt.
In Internet-Fachportalen hieß es, Chemnitz habe damit »einen echten Coup« gelandet.
Rein sportlich mag das stimmen: Melnikova, 25, ist mehrfache Weltmeisterin, bei den Olympischen Spielen von Tokio errang sie 2021 Gold im Team. Insgesamt hat sie bereits vier Olympiamedaillen errungen. Melnikova ist eine der besten Turnerinnen der Welt.
Es gibt auch die andere Seite der Angelina Melnikova: Sie ist mit Russlands Präsident Wladimir Putin auf Fotos zu sehen, lächelnd. Sie hat sich mit dem Z-Symbol gezeigt, das in Russland als Propagandazeichen für den Krieg in der Ukraine steht. Sie ist in ihrer Heimat für die Putin-Partei angetreten und hat ihre Kandidatur nur zurückgezogen, weil sich ein politisches Amt mit ihren Trainingskapazitäten nicht vertrug.
Als neutrale Athletin eingestuft
Sie ist ein klassischer Fall der russischen Athletin, die wegen ihrer Nähe zu Putin und zum Regime weiterhin von internationalen Wettkämpfen ausgeschlossen sein müsste. Eigentlich. Dennoch hat der Turnweltverband FIG sie als »neutrale Athletin« eingestuft, ein Status, mit dem sie international starten darf.
Begründet wurde dieser Entschluss nicht. Als offiziell Neutrale durfte Melnikova bereits im Oktober an der WM in Jakarta teilnehmen und gewann den Titel im Mehrkampf.
Mit diesem Freibrief des Weltverbandes ausgestattet, wurde sie dann auch von der Startgemeinschaft Tittmoning-Chemnitz für die Finalwettkämpfe verpflichtet. Und damit ging die Aufregung los.
Als Melnikova zum Halbfinale vor 14 Tagen in Esslingen antrat, musste die Veranstaltung gesichert werden. Proteste waren befürchtet worden.
»Das kenne ich nur vom Fußball«
»Zum ersten Mal in meinem Leben habe ich bei einem Turnwettkampf an einer polizeilichen Sicherheitsbesprechung teilgenommen, so etwas gab es noch nie«, sagt Nils B. Bohl dem SPIEGEL. Bohl ist Sprecher der Deutschen Turnliga. Er sagt: »Das kenne ich nur vom Fußball.«
Bohl betont, dass die Turnliga selbst sich aufgrund des FIG-Beschlusses gebunden sah, keine Maßnahmen gegen Melnikova ergreifen zu können. Man musste ihren Auftritt aufgrund der Vorgaben des Weltverbandes dulden, »wir befanden uns in gewisser Weise in der Falle der FIG«, sagt er.
Esslingens Oberbürgermeister Matthias Klopfer hat solche Verpflichtungen nicht. Er sprach in seinem Grußwort bei der Veranstaltung offen von einer »falschen Entscheidung«. Eine Sportlerin, die sich offensichtlich pro Angriffskrieg positioniert hat, als Aushängeschild eines Turnwettkampfes in Deutschland: Dass das nicht ohne Widerspruch bleiben würde, war absehbar.
Geschäftsführerin Frehse
Das galt offenbar nur nicht für den TSV Tittmoning-Chemnitz. Dabei handelt es sich um einen Zusammenschluss zweier Vereine: dem kleinen TSV Tittmoning in Oberbayern und Chemnitz in Sachsen, seit Jahren ein Zentrum des Turnens der Frauen. Die dortige Geschäftsführerin ist Gabriele Frehse. Sie ist wahrlich keine Unbekannte im deutschen Frauenturnen.
Die heute 63-Jährige hat seit den Achtzigerjahren in Chemnitz die dortigen Turnerinnen betreut, darunter Spitzenathletinnen wie Pauline Schäfer. 2020 veröffentlichte der SPIEGEL Missbrauchsvorwürfe von Chemnitzer Turnerinnen gegen die eigene Trainerin. Zeitweise war Frehse danach am Olympiastützpunkt suspendiert und ging als Bundestrainerin nach Österreich.
Aber noch immer geht im Frauenturnen in Chemnitz so gut wie nichts ohne Frehse.
Mit der Verpflichtung Melnikovas wollte Tittmoning-Chemnitz die eigenen Meisterschaftsambitionen verbessern. Die beste Chemnitzer Turnerin, Karina Schönmaier, deren Mutter Russin ist, hatte den Kontakt gemeinsam mit ihrem Trainer Anatol Ashurkov, der aus Belarus stammt, hergestellt.
Melnikova reiste aus Moskau zum Halbfinale nach Esslingen an, turnte ihren Wettkampf, ließ sich anschließend von vielen Zuschauern im Selfie fotografieren.
Als sei alles ganz normal.
»Etwas blauäugig«
Die Chemnitzer Cheftrainerin Tatjana Bachmayer sprach allerdings noch während des Wettkampfes, befragt vom SWR, davon, dass man die ganze Angelegenheit vielleicht »etwas blauäugig« angegangen sei. »Wir wollten kein politisches Statement setzen, sondern nur, dass unsere Turnerinnen von einem Turnstar profitieren.«
Auch Bachmayer verweist auf den Weltverband: »Wir haben uns auf das Urteil der FIG verlassen.«
Vor dem Finale, das ab Samstag in Heidelberg angesetzt ist, hat der Verein jetzt umgedacht. Im Vorfeld war bereits eine Demonstration von Ukrainerinnen und Ukrainern, die in Deutschland leben, angemeldet worden. Der politische Druck nahm zu, der Verein hat zu Wochenbeginn reagiert und Melnikova wieder von der Starterliste genommen. Ein Salto rückwärts.
»Wir als Verein haben beschlossen, dass wir sie zur Sicherheit unserer Turnerinnen und Trainer sowie des gesamten Finales in Heidelberg nicht starten lassen werden«, teilte Frehse mit. Dies sei eine Maßnahme, die allein zum Schutz der Athletinnen getroffen worden sei, betonte Tittmoning-Chemnitz.
Russen vertreten. Israelis nicht
Auch Melnikova selbst meldete sich via Instagram: »Leider waren die öffentliche Aufmerksamkeit und die politischen Diskussionen deutlich größer, als die Organisatoren es erwartet hatten.« Sie betonte aber, dass sie bei dem Wettkampf in Esslingen »sehr viel Unterstützung von Zuschauern, Sportlern, Trainern und Kampfrichtern« erfahren habe.
Tatsächlich gab es bis auf die Intervention des Esslinger Oberbürgermeisters beim Wettkampf keine Proteste. Im Gegenteil: Melnikovas Darbietungen wurden sogar mit viel Beifall begleitet.
Auch bei der WM in Jakarta konnte Melnikova ihr Programm unbeeinflusst zeigen. Anders als die israelischen Athleten: Sie waren im Vorfeld von den WM-Verantwortlichen wegen des Gazakrieges ausgeschlossen worden.
Indonesien hatte Israels Athletinnen und Athleten die Ausstellung von Visa für das islamisch geprägte Land verweigert. So hatte der Olympiasieger von Tokio im Bodenturnen, Artem Dolgopyat, keine Chance, um den Titel in Jakarta zu kämpfen.
Dolgopyat turnt dafür beim Finale in Heidelberg am Wochenende. Er gehört ebenso wie sein Landsmann Ilia Liubimov der Riege der TG Saar an, die bei den Männern um Platz drei turnt. Es ist nicht ausgeschlossen, dass es wegen ihrer Starts Proteste geben wird.
Angelina Melnikova hat in ihrem Instagram-Post am Ende noch geschrieben: »Ich glaube und hoffe, dass sich die Situation bald bessert.«
Am Donnerstag meldete sich ein anderer Sportverband zu Wort. Der Judo-Weltverband teilte mit, dass russische Judoka bei internationalen Wettkämpfen künftig wieder antreten dürfen: unter der Flagge Russlands und mit der eigenen Hymne.
Angelina Melnikova bei Olympia 2021
Foto:LIONEL BONAVENTURE / AFP
Melnikova (r.) und Russlands Präsident Wladimir Putin 2021
Foto: Yevgeny Biyatov / ITAR-TASS / IMAGOMelnikova bei der WM in Jakarta im Oktober
Foto: Mast Irham / EPATurntrainerin Gabriele Frehse
Foto: Catalin Soare / dpaAm Stufenbarren bei der WM in Jakarta
Foto: Dita Alangkara / APIsraels Turnstar Artem Dolgopyat
Foto: Mike Blake / REUTERS