Der berühmte erste Satz – und wie Kafka ihn veredelte

Von Franz Kafka heißt es, das Schreiben sei ihm eine Qual gewesen. Er selbst hat diesen Eindruck nach Kräften verstärkt. »Wieder zu schreiben versucht, fast nutzlos«, notierte er am 29. Januar 1915 in sein Tagebuch. Und am 7. Februar: »Vollständige Stockung. Endlose Quälereien.«

Andererseits: Wem unter solchen Umständen ein Romananfang wie der folgende gelingt: Ist der nicht zu beneiden? »Jemand musste Josef K. verleumdet haben, denn ohne dass er etwas Böses getan hätte, wurde er eines Morgens verhaftet« – so fängt der »Process« an, eine Passionsgeschichte, ein Jahrhundertbuch.

Ein Mann wird angeklagt; er weiß nicht, warum. Der Mann versucht, den Grund für die Anklage herauszufinden, kommt aber keinen Schritt voran, im Gegenteil. Am Ende ist er tot, hingerichtet von zwei namenlosen »Vollstreckern«; eine Traumgeschichte, lauter kleine Rätsel, die sich unentwirrbar zu einem großen Rätsel zusammenfügen.

Dass der erste Satz sensationell gut ist, wird Kafka gewusst haben. Er enthält zwei Tatsachen (ein Mann wird verhaftet, er hat nichts Böses getan), und eine Mutmaßung (jemand musste ihn verleumdet haben), die sich zwingend daraus ergibt, dass die beiden Tatsachen nicht zueinanderpassen: Selten hat einer die Gestimmtheit seiner Zeit genauer getroffen als Kafka.

Glücklicherweise ist die Handschrift des Romans erhalten. Deshalb weiß man, dass der erste Satz ursprünglich so lautete: »Jemand musste Josef K. verläumdet haben, denn ohne dass er etwas Böses getan hätte, war er eines Morgens gefangen.«

Kafka schrieb meist mit einer Stahlfeder und mit Tinte, flüssig und schwungvoll; auffällig ist, dass er wenig ergänzte, wenig änderte, kaum etwas strich. Für den Anfang gilt das nicht. Warum machen seine Änderungen diesen ersten Satz noch besser?

Dass Josef K. gefangen wird, ist natürlich richtig. Wenn es aber im »Process« um eine unüberschaubare, unsichtbare Behörde gehen soll: Wäre es dann nicht gut, im ersten Satz schon das Bürokratische, Gesichtslose anzudeuten?

Eine Verhaftung setzt einen Haftbefehl voraus, ausgestellt von einem Richter, das ist das Formale daran. Überdies lässt ein Haftbefehl einen Haftgrund vermuten, Flucht-, Wiederholungs- oder Verdunkelungsgefahr etwa; da dieser Josef K. nichts Böses getan hat, ein Haftgrund mithin entfällt, entsteht sofort eine schöne Irritation.

Und indem Kafka das starre war durch das beweglichere wurde ersetzt, macht er aus dem Zustand zugleich einen Vorgang. Ähnlich wie in seiner Erzählung »In der Strafkolonie« lesen wir nicht den Schuldspruch, wir schauen dem Gericht stattdessen bei der Arbeit zu.

Und es ist nicht die einzige Präzisierung, die Kafka vornimmt. Im zweiten Satz wird die Bedienerin der Zimmerwirtin erwähnt, eine Nebenfigur, deren wichtigste Aufgabe darin besteht, nicht aufzutauchen. Kafka macht aus der Bedienerin eine Köchin, der Zimmerwirtin gibt er den Namen Grubach.

Versuch einer nachträglichen Verrätselung

Im »Process«, das macht einen Teil seiner Faszination aus, bleibt das Große seltsam ortlos, der Zeit eigentümlich enthoben. Der Reiz liegt gerade in der Unschärfe, im Vagen, bloß Angedeuteten, unzureichend Ausgeleuchteten. Gleichzeitig rückt Kafka das Kleine ins helle Licht: den Alltag, die Büroroutine. Die Schatten erscheinen dadurch umso undurchdringlicher. Kafka lenkt die Aufmerksamkeit auf Details, die den Blick auf die Hauptsache verstellen helfen, ähnlich dem Autofokus einer defekten Kamera, die ständig aufs Falsche scharfstellt.

Kafkas Redigatur ist der Versuch einer nachträglichen Verrätselung. Der erste Entwurf ist nahezu fugenlos. Dann aber verschiebt er die Satzteile und die Details behutsam, sodass sich Spalten und Abgründe auftun: Kafka kafkaisiert seinen Text vor unseren Augen. Kafkaesk heißt seitdem, was uns undurchschaubar, rätselhaft, bedrohlich erscheint.

Auf die Frage, wie ihm sein David gelungen sei, soll Michelangelo gesagt haben, die Figur, die er als Bildhauer erschaffen habe, sei im Stein bereits enthalten gewesen. »Ich musste nur noch alles Überflüssige wegschlagen.«

Große Literatur entsteht manchmal auch dadurch, dass einer zu einer Geschichte Überflüssiges hinzufügt. So lange, bis die Figur im rohen Stein beinahe verschwindet. Weil das Überflüssige, das sind dann Glücksfälle, nur scheinbar überflüssig, in Wahrheit aber unentbehrlich ist.

Erstausgabe von 1925: Traumgeschichte aus lauter Rätseln

Foto: Antiquariat H.-P. Haack, Leipzig

Idan Weiss als Franz Kafka in dem Film »Franz K.« (2025)

Foto: X-Verleih

Erste Seite des Originalmanuskripts

Foto: Marijan Murat / dpa / picture alliance

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