Die erstaunliche Wandlung der Jule Brand

Manchmal können Vereinsmanager gnadenlos sein. »Sie hat keine Konstanz in ihren Leistungen, deutet immer wieder ihr Potenzial an, hat aber noch keinen Weg gefunden, dieses Potenzial verlässlich auf den Platz zu bringen. Ihr fehlen auch die Erfolgserlebnisse.«

So urteilte Ralf Kellermann, Sportchef des VfL Wolfsburg, im Dezember 2023 über seine Spielerin Jule Brand. Im »Kicker« sagte er noch einen weiteren Satz: »Auffällig ist, dass sie sich körperlich nicht gegen ihre Gegenspielerinnen durchsetzen kann.«

Es klang wie das Urteil über eine Spielerin, der viele etwas zutrauen – und die dann doch oft hinter den Erwartungen bleibt. Wahrscheinlich wollte er Brand, die zu der Zeit keine leichte Phase in Wolfsburg hatte, ein wenig kitzeln. Es waren trotzdem außergewöhnliche Sätze, immerhin gilt Brand seit Jahren als eines der größten Versprechen im deutschen Fußball.

Nun, über ein Jahr später, liefert Brand Antworten. Sie steht mit dem Nationalteam im Halbfinale der EM gegen Spanien (21 Uhr, TV: ARD, Liveticker SPIEGEL.de), und der Weg dorthin ist auch ihr zu verdanken.

Gegen Frankreich, in einem dramatischen Viertelfinale  mit fast 120 Minuten in Unterzahl, gewann sie 18 von 34 Zweikämpfen – mehr als jede andere Spielerin auf dem Platz. Als sie nach dem Spiel gefragt wurde, ob ihr das Verteidigen Spaß gemacht habe, antwortete sie: »Was heißt Spaß machen? Es war mein Auftrag, zu verteidigen.« Es klang wie zwei Sätze einer Spielerin, die erwachsen geworden ist.

Brand wechselt nach Lyon

Mit gerade einmal 22 Jahren hat Brand bereits 64 Länderspiele bestritten. Lange galt sie als hochveranlagt, aber unvollendet – eine, die glänzt, wenn es läuft, aber weitgehend unsichtbar bleibt, wenn das Spiel kippt.

In Interviews kokettiert sie gern mit ihrer »verpeilten« Art. Das wirkt sympathisch, doch manchmal auch wie ein Erklärungsmuster für fehlende Klarheit und Fokus.

Vor dieser EM zeigte sich jedoch eine neue Brand – entschlossener. »Ich bin kein Küken mehr«, sagte sie. Sie wollte Verantwortung übernehmen. Und sie tut es.

Vizekapitänin Sjoeke Nüsken sagte über sie: »Wenn sie selbstbewusst auf dem Platz ist, dann ist sie unschlagbar.«

Die 22-Jährige wechselt im Sommer vom VfL Wolfsburg zu Olympique Lyon – ablösefrei. Kein Megatransfer also, aber ein Signal von ihr, den nächsten Schritt in ihrer Karriere schaffen zu wollen. In Lyon, beim vielfachen Champions-League-Sieger, setzen sich nur die Besten durch.

Die neue, widerstandsfähige Brand

Brand wird ihr Kapitel in Frankreich mit sehr viel Selbstvertrauen beginnen, das liegt besonders an diesem Turnier. In der Vorrunde schoss sie das 1:0 gegen Polen aus der Distanz, gegen Schweden erzielte sie erneut das Führungstor nach starkem Lauf. Zwei weitere Treffer bereitete sie vor.

Auch gegen Frankreich gehörte Brand zu den auffälligsten – allerdings nicht in ihrer klassischen Rolle auf dem rechten Flügel. Und wahrscheinlich hat das dazu geführt, dass sie jetzt viel mehr als sonst im Mittelpunkt steht.

In der Defensive half sie Rechtsverteidigerin Sophia Kleinherne über das gesamte Spiel hinweg. Eine Szene in der 105. Minute zeigte exemplarisch, wie sehr sich Brand auf den Kampf eingelassen hat: Sie sprintete von der Mittellinie bis in den eigenen Strafraum zurück – und grätschte Melvine Malard im allerletzten Moment ab.

Ein Tackling, das vielleicht für eine neue Jule Brand steht – wenngleich die vergangene Saison beim VfL Wolfsburg bereits auf eine neue, widerstandsfähige Brand hingedeutet hatte. Doch erst jetzt im großen Rampenlicht der EM fällt das auf.

Auch im Halbfinale gegen Spanien wird Brand wieder gefragt sein – wohl erneut in dieser hybriden Rolle als mit verteidigende Angreiferin.

Doch Spanien bietet andere Herausforderungen als Frankreich. Idealerweise wird es diesmal kein Spiel in Unterzahl – keines, das erst durch einen Platzverweis ins Rollen kommt und die Deutschen extra motiviert.

»Wir werden leiden müssen«, sagte Bundestrainer Christian Wück über die starken Spanierinnen, aber die Leidensphasen sollen nicht zu stark werden.

Das heißt auch: Räume schaffen. Für Entlastung sorgen. Und dafür braucht es Spielerinnen wie Jule Brand.

Dem Fußball fehlt ein neues Gesicht

Dass dem Team trotz der Unterzahl gegen Frankreich ein Tor gelang, war auch Ausdruck des Vertrauens in die Offensivkraft. »Hinten alles wegverteidigen, vorn wird schon einer reingehen«, so lautete die Anweisung an Kleinherne, kurz vor ihrer Einwechslung für die verletzte Sarai Linder in der Anfangsphase.

Diese Art von Glaube hat auch mit Brand zu tun, und er hat Folgen.

Fast elf Millionen Menschen sahen das Viertelfinale im deutschen Fernsehen, gegen Spanien rechnen Experten vor Ort mit mindestens 13 bis 15 Millionen. Selbst der Bundeskanzler will im Falle eines Finaleinzugs live im Stadion sein. Das öffentliche Interesse wächst – und mit ihm das Bedürfnis nach einer neuen Symbolfigur.

Seit Alexandra Popp die DFB-Auswahl verlassen hat, fehlt der deutschen Nationalmannschaft vor allem eines: ein Gesicht. Eines, das nicht nur alle zwei Jahre während eines großen Turniers die Titelseiten füllt, sondern Woche für Woche Interesse weckt, Begeisterung auslöst, Bindung schafft.

Es geht um mehr als Leistung – es geht um Identifikation.

Brand steht auch für Glamour

Zwar fliegt derzeit Ann-Katrin Berger für ihre Paraden bei der EM durch internationale Highlight-Videos. Doch mit 34 Jahren dürfte ihre Zeit im DFB-Trikot nicht mehr allzu lange andauern. Und da Berger seit langer Zeit im Ausland und nun in den USA spielt, ist sie auch medial weit jenseits des deutschen Radars unterwegs.

Auch andere potenzielle Anführerfiguren fehlen – oder fehlen verletzt. Lena Oberdorf zum Beispiel: Deutschlands kompromisslose Zweikämpferin, seit einem Jahr außer Gefecht, Folgen eines Kreuzbandrisses.

Oder Kapitänin Giulia Gwinn, die sich gleich zu Turnierbeginn wegen einer erneuten Knieverletzung abmelden musste. Oberdorf und Gwinn bringen auch vieles mit, um Aushängeschilder zu werden. Doch nun fehlen sie, der EM-Hype findet ohne sie statt, und die Lücke nach Popp ist weiterhin spürbar.

Das ist auch die Chance für Jule Brand. Die 22-Jährige bringt nicht nur Tempo auf dem Flügel, sondern bringt auch etwas mit, das im deutschen Fußball selten geworden ist: Glamour. Brand ist das Werbegesicht mehrerer Marken, ihr Wechsel zu Olympique Lyon – einem der renommiertesten Klubs Europas – ist ein Statement.

Dort wird sie Widerstände erleben, Brand wird nicht automatisch Stammspielerin sein. Sie muss sich durchsetzen, ihre Zweikampf- und Laufstärke wird dabei sehr hilfreich sein. Und wer in Lyon spielt, kann fast automatisch viele Titel gewinnen.

In einer ARD-Dokumentation  kann man Brand dabei zusehen, wie sie das erste Mal nach Lyon reist. Sie erklärt, warum sie diesen Schritt wagt. Und offenbart, dass sie bislang nur ein paar Brocken Französisch spricht.

Es könnte für Brands neuen Mut stehen, für ihren Reifeprozess.

Vielleicht war die öffentliche Kritik von Kellermann genau der Impuls, den sie gebraucht hat: hart, aber heilsam. Jetzt, mitten im Turnier, wirkt Brand wie eine Spielerin, die verstanden hat, was es braucht – um nicht nur mitzuspielen, sondern anzuführen.

Nationalspielerin Brand: »Verpeilt«

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