Das letzte Durchatmen, bevor es richtig hart wird

Die Gipfel werfen ihre Schatten voraus: Vor der Tour de France 2025 haben viele gesagt: Ach, das ist ja mal eine schöne Rundfahrt für die Sprinter. Pustekuchen. Es ist nun die 17. Etappe, und bisher haben erst viermal die Topsprinter die Chance gehabt, einen Tageserfolg abzugreifen. Stattdessen zahlreiche Teilstücke, in denen welliges Gelände die Ausreißer und Klassikerfahrer bevorzugte. Der Mittwoch war wohl die letzte Chance für die Spezialisten, noch einmal den Kitzel des Massensprints zu genießen. Am Donnerstag wartet dann der komplette Gegenentwurf. Stichwort: Hochalpen. Stichwort: 80 Bergwertungspunkte.

Die 17. Etappe: Vaucluse, Drôme, Provence: Die 161 Kilometer von Bollène bis Valence ins Rhônetal sind einmal mehr ein Teilstück wie von der französischen Tourismuszentrale bestellt. Die Gegend, in der Vincent van Gogh seine Sonnenblumen malte, die Blume, die bei keiner Tour de France als Fotomotiv fehlen darf. Und dennoch ist es nur eine Zwischenetappe, was man auch daran erkannte, dass viele Zuschauer sich schon auf den Weg in die Alpen aufgemacht haben, um sich ein Plätzchen am Berg zu ergattern, den Klapptisch aufzustellen und die Flasche Rotwein zu entkorken. Sie verpassten den Sieg von Jonathan Milan aus Italien, der der beste Sprinter im Feld ist und sein Grünes Trikot behält.

Wo ist Lipowitz? War auf dieser Etappe kaum zu sehen. Was aber am Mittwoch nichts bedeutete. Die Bergfahrer konnten ausrollen. Im Gesamtklassement änderte sich nichts: Tadej Pogačar vor Jonas Vingegaard und Lipowitz. Wenn man das morgen Abend genauso schreiben kann, hat der junge Deutsche das Podium fast sicher. Fast.

Vorsicht, frisch gefeudelt: Kein Urlaubswetter in Südfrankreich, im Schlussstück der Etappe setzte ergiebiger Regen ein, für die Sprinter, die ohnehin schon Kopf und Kragen riskieren, eine weitere Gefahrenquelle. Zumal die schmale Zielkurve vor der Schlussgerade in Valence das gesamte Feld zusammenzwängt. Es kam, wie es kommen musste, als sich alles auf den Zielsprint vorbereitete, gab es Stürze im Feld, nur die knapp 15 Fahrer an der Spitze entkamen ihnen und konnten zu Ende sprinten.

Die harte dritte Woche: Die letzte Tour-Woche, sie fordert ihre Opfer. Der Gesamtzweite Jonas Vingegaard ging nach einer Kollision mit einem Fotografen mit schmerzender Schulter ins Rennen. Tobias Halland Johannessen, der aktuelle Tour-Achte aus Norwegen, kollabierte am Mont Ventoux nach dem Zielstrich. Selbst Tadej Pogačar, der Unantastbare, kämpft mit einer Erkältung. Noch vier Etappen, dann ist es überstanden (aber was für Etappen!).

Land und Leute: Startort Bollène hat in der französischen Geschichte einen ewigen Platz, ein tragisches Unglück ist dafür verantwortlich. 1957 entgleiste eine Lokomotive des Schnellzuges von Nizza nach Paris und 31 Menschen starben.

Bruderschaften: Zielort Valence fügt der Geschichte der Brüder im Sport ein neues Kapitel hinzu. Bei der Tour de France fahren die Yates-Zwillinge Adam und Simon und die Johannessen-Zwillinge Tobias Halland und Anders Halland sowie die französischen Brüder Aurélien und Valentin Paret-Peintre, Letzterer der Sieger von Mont Ventoux – und aus Valence stammen die Gille-Brüder Guillaume und Bertrand, allen Handballfans bestens bekannt.

Ein Helfer weniger, ein Helfer mehr: Auf die Unterstützung von Teamkollege Danny van Poppel müssen die beiden Bora-Stars Florian Lipowitz und Primož Roglič ab sofort verzichten. Die Helferdienste des Niederländers sind jetzt anderswo gefragt, er ist am Dienstag Vater geworden und stieg deshalb aus. Ab sofort ist er Baby- und Wasserträger für seine Frau Stéphane.

Das Tor der Provence: So wird Valence genannt. In der Nachbarschaft des Startortes Bollène liegt mit Orange allerdings auch eine Stadt, die nicht unbedingt für die Devise »Das Tor ist offen« steht. Orange ist seit 1996 Hochburg des rechtsextremen Front National, der langjährige Bürgermeister Jacques Bompard war ein Mitbegründer der Partei. Die Einwohner von Orange werden die »Orangeois« genannt. Dass der Mann im Weißen Haus auch als »der Orange« bekannt ist, hat aber nichts damit zu tun, dass es hier politisch eine gewisse Nähe gäbe. Der Berg La Montagne de la Lance, dessen Umgebung die Fahrer am Mittwoch streiften, ist ja auch nicht nach Armstrong, dem Abgefeimten, benannt. Manchmal muss man solche Missverständnisse aufklären.

Primož inter Pares: Na, klar, Florian Lipowitz. Aber an dieser Stelle ist es auch mal angebracht, seinen Teamkollegen Primož Roglič zu würdigen. Der Mann hat viermal die Vuelta und auch den Giro gewonnen, er ist ein Superstar im Radsport, und wie er fast stillschweigend Lipowitz die Kapitänsrolle bei der Tour überlässt, obwohl er nur zwei Plätze im Gesamtklassement hinter ihm liegt, das fordert schon Respekt. Es wird ihm nicht leicht fallen, aber er erfüllt seine Rolle. Was in den Hochalpen passiert, ist allerdings offen. Dann kann sich das interne Kräfteverhältnis auch wieder umkehren. Und man wird sehen, wer von beiden der bessere frühere Wintersportler ist.

Bon Appetit: Setzt man sich in Valence an den Tisch, geht es los: Soupe à l'Oignon, also Zwiebelsuppe, dann Coq au Vin, danach Pot-au-Feu und schließlich Foie Gras. Also ein ganz normales Häppchen. Obelix würde fragen: Und wann kommt die Hauptspeise?

Was macht Antwerpes: Pflückt Früchte vom Birnenbaum und besucht für die ARD eine Geigenbaufabrik in Valence. »Florian Lipowitz scheint den Bogen rauszuhaben.« Bei solch erlesenen Wortspielen muss man neidlos anerkennen: Die ARD spielt im Sportfernsehen einfach die erste Geige.

Erkenntnis der Etappe: Alles wartet auf morgen, alles wartet auf den Col de la Loze.

So gehts weiter: Der Col de la Loze, der Lieblingsberg des Tour-Direktors Christian Prudhomme und seines Streckenplaners Thierry Gouvenou, steht den Fahrern im Weg und versperrt ihnen den Blick auf Paris. Die Tour mag entschieden sein, aber jetzt erst geht sie für manche richtig los. DIE Königsetappe soll es werden, die 171 Kilometer von Vif über den Col de Glandon und den Col de la Madeleine zum Schlussanstieg auf den Col de la Loze. Jenen Berg, der vor zwei Jahren einen entnervten und ausgelaugten Tadej Pogačar zum berühmten »I’m gone, I’m dead«-Funkspruch zwang. Als sei das nicht alles schon hart genug: Das Wetter wird schlecht. Hoffentlich hat Michael Antwerpes eine Regenjacke dabei.

Etappensieger Jonathan Milan

Foto: Thibault Camus / AP

Stillleben mit Weinberg und Radsportlern

Foto: Loic Venance / AFP

Das Peloton, gefeiert vom Publikum

Foto: Benoit Tessier / REUTERS

Es gibt sie noch, die gute alte Schiefertafel, die die Zeitabstände anzeigt

Foto: Mosa'ab Elshamy / AP

Die Begeisterung für die Tour hält auch in der dritten Woche an

Foto: Loic Venance / AFP

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