"Die Menschen essen drei, vier Tage lang gar nichts"
Die Zahlen der Hungernden in Gaza sind alarmierend, aber manche trauen ihnen nicht, denn teils sind es Zahlen der Hamas. Was sagt UN-World Food Programme (WFP) zur Lage vor Ort? Martin Frick, Deutschland-Chef des WFP, erklärt, was die Hilfe derzeit behindert und was er tun würde, um die Plünderung der Hilfsgüter zu verhindern.
ntv.de: Herr Frick, das UN World Food Programme (WFP) ist für die Menschen in Gaza eine der größten und damit wichtigsten Quellen für Nahrung. Israels Premier Benjamin Netanjahu sagt: "In Gaza gibt es keine Hungersnot." Was sagen Sie?
Martin Frick: Hungersnot erklärt man nicht einfach so. Für die Feststellung dieser schlimmsten Form von Hunger müssen enge Kriterien erfüllt sein. Mit Blick auf Hungersnot stellt eine unabhängige Expertenkommission fest, ob sie erreicht sind - das ist die Integrated Food Security Phase Classification - abgekürzt IPC. Man braucht dafür verlässliche Zahlen zu Todesopfern. Wie viele Menschen sind tatsächlich an Hunger gestorben? Das lässt sich derzeit nicht verlässlich feststellen. Das ist allerdings nur einer von drei Schwellenwerten, die erreicht sein müssen, Die anderen zwei - Nahrungsmittelknappheit und Unterernährung bei Kindern - sind in Teilen des Gazastreifens bereits überschritten, dafür liegen verlässliche Daten vor. Schaut man sich aber an, was in Gaza derzeit passiert, dann ist die Lage sehr klar.
Wie stellt sie sich dar aus Sicht des WFP?
Vor dem 7. Oktober 2023, also vor Beginn des Krieges, war Gaza bereits hilfsbedürftig. Der Küstenstreifen ist klein und sehr dicht besiedelt. 2,1 Millionen Menschen können sich dort nicht selbst versorgen. Zwei Dritteln der Bevölkerung fehlte es schon an ausreichender Nahrung, da hatte der Krieg noch gar nicht angefangen. WFP hat damals täglich 500 LKW mit Hilfsgütern über die Grenze gebracht. Dann kam der Überfall der Hamas. Am 27. Oktober startete die Bodenoffensive - Menschen mussten aus ihren Häusern fliehen, suchten Schutz in anderen Gebieten, dann wurden auch diese Gebiete evakuiert, in Gaza herrschte Chaos. Schon im März 2024, also vor anderthalb Jahren, hat das IPC festgestellt, dass die gesamte Bevölkerung hungert, davon ca. 500.000 kurz vor der Hungersnot.
Konnten Sie in der Phase, also während der israelischen Offensive, noch Hilfsgüter nach Gaza bringen?
Wir hatten noch Nahrung in den Lagerhäusern, die erstmal verteilt werden konnte. Transporte von außen fanden auch statt, aber unter widrigsten Bedingungen. Nicht nur muss die Fracht jedes LKWs hinter der Grenze komplett abgeladen, kontrolliert und auf andere LKW umgeladen werden. Danach müssen die Lastwagen durch das Kampfgebiet fahren zu den Zonen, in die die Menschen geflohen sind. Die Lagerhäuser wurden im Krieg schwer beschädigt, Infrastruktur gibt es kaum. Als dann Anfang des Jahres die Waffenruhe begann, haben wir rund um die Uhr gearbeitet, hunderte zusätzliche Verteilpunkte eingerichtet, 600-700 LKW täglich über die Grenze geschickt, bis sich die Lage stabilisiert hatte.
Dann kam Israels Totalblockade.
Von Mitte März bis Ende Mai war der Gazastreifen komplett abgeriegelt. Kein einziger Transporter konnte die Grenze überqueren. Unser Verteilsystem musste sukzessive eingestellt werden: Lagerhäuser konnten wegen anhaltender Kampfhandlungen nicht mehr genutzt werden. Bäckereien, die wir beliefert hatten, hatten weder Mehl noch Brennstoff. Suppenküchen mussten zuletzt geschlossen werden. Wir hatten nichts mehr.
Und jetzt?
Seit dem 21. Mai lässt Israel wieder Hilfsgüter durch, aber nicht im erforderlichen Umfang. Das Umladen und Kontrollieren der Fracht durch israelische Behörden dauert manchmal zwei Tage, weil Genehmigungen nur schleppend erteilt werden. Dann fährt der Transporter los, durch das Kriegsgebiet mit Militärpräsenz. Auf der Karte ist alles, was rot eingefärbt ist, entweder unter Evakuierungsbefehl oder aktive Kampfzone.
Nicht selten werden Lastwagen von verzweifelten und hungrigen Menschen gestürmt und entladen.
Die israelische Seite behauptet, das sei die Hamas. Was sagen Sie?
Was unsere Teams vor Ort sehen sind verzweifelte Menschen, die nicht wissen, wie sie ihre Familie, ihre Kinder ernähren sollen, die oft tagelang nichts gegessen haben. Der Hunger in Gaza hat eine neue Stufe des Grauens erreicht. Offiziere der israelischen Armee haben öffentlich erklärt, dass es keine systematische Abzweigung von Hilfslieferungen des WFP gibt.
Zum Teil wird das Essen auf dem Schwarzmarkt zu Mondpreisen verkauft. Was können Sie tun gegen die Plünderungen? Müssten die LKW von der israelischen Armee geschützt werden?
WFP macht Nothilfe seit 60 Jahren. Egal, wo wir in der Welt aktiv sind - wir sind unbewaffnet. Was uns schützt, sind die Humanitären Prinzipien. Die Leute wissen, wir sind unparteiisch und kümmern uns um die Schwächsten. In der Regel können wir so unsere Arbeit machen.
Aber in Gaza funktioniert das derzeit nicht. Im Internet zeigen Filme, wie bewaffnete Plünderer mit Lastern voller Hilfsgüter durch die Gegend brettern. Viele Menschen klagen, dass nichts bei ihnen ankommt. Aber auf dem Markt: Ein Kilo Mehl für 23 Euro.
Wir haben über zwei Millionen Menschen, die akut hungern. Dass Menschen losstürmen bei allem, was nach Nahrung aussieht, ist doch verständlich. Während der Waffenruhe war das nicht der Fall. Wir haben unsere Verteilpunkte erreicht und konnten systematisch den Schwächsten helfen - den Kindern, Alten, Schwangeren, Menschen mit Behinderung und den Kranken. Diese Pipeline muss wieder aufgebaut werden; dafür brauchen wir eine große Menge Hilfsgüter und Regelmäßigkeit. WFP hat 170.000 Tonnen Nahrung außerhalb des Gazastreifens bereitstehen - wir könnten die Bevölkerung Gazas aus dem Stand zwei Monate lang versorgen.
Die israelischen Behörden müssen Sie nur reinlassen?
Wir brauchen grünes Licht, dass diese Hilfstransporte rollen dürfen. Eine Luftbrücke ist dabei keine dauerhafte Lösung, Luftabwürfe sind 34-mal teurer als der Landweg, mit deutlich weniger Kapazität, und wenn Menschen in Richtung der Fallschirme rennen, werden landende Paletten zur Gefahr. Wir brauchen ein Minimum von 100 Lastwagen pro Tag auf dem Landweg in den Gazastreifen. Diese Menge wird sofort benötigt, um die enorme Menge an Nahrungsmitteln reinzubringen, die nötig ist, um eine Hungersnot abzuwenden. Wir wollen keine Präsenz bewaffneter Kräfte entlang der Konvoistrecke oder an Verteilpunkten. Wir brauchen einen Waffenstillstand.
Dann würden die Plünderungen Ihrer Einschätzung nach aufhören?
Das kennen wir aus vielen Konflikten. Wenn die öffentliche Ordnung komplett zusammengebrochen ist, werden Schwarzmärkte Teil der sogenannten "Kriegsökonomie". So ist es jetzt auch in Gaza. Wenn aber verlässliche Hilfe kommt in ausreichender Menge, dann beruhigen sich die Menschen, dann wird geordnete Verteilung wieder möglich und dann beruhigt sich auch der Markt.
Das Gebiet, den Markt quasi "fluten" mit Essen?
Vielleicht ist das das richtige Wort. Wir reden von einem Gebiet, das seit zwei Jahren nonstop unter Artilleriefeuer und Bombardement steht. Da steht kein Stein mehr auf dem anderen. Wir haben Menschen in Gaza, die essen drei, vier Tage lang gar nichts. Die haben noch ein paar trockene Nudeln, irgendwie zermörsert und mit Wasser zu einer Pampe gerührt, und das kriegen die Kinder. Menschenleben stehen auf dem Spiel, wenn nicht mehr Hilfe kommt.
Was macht Hunger mit dem Körper eines Kindes?
In Gaza ist die gesamte Altersgruppe von Kindern unter fünf Jahren mangelernährt. Das ist folgenreich, denn das bedeutet nicht nur, dass diese Kinder wochenlang Hunger leiden müssen. Selbst wenn sie überleben, ist damit noch lange nicht alles wieder gut. Das kann bedeuten, dass sie ein Leben lang behindert sind. Weil sich ihr Körper in einem entscheidenden Moment nicht so entwickeln konnte, wie es hätte sein müssen. Wir bringen darum speziell für Kleinkinder, stillende Mütter und Schwangere Hochenergie-Nahrung. Die ist extra mit speziellen Nährstoffen angereichert damit das Schlimmste verhindert wird. Aber dafür müssen wir zu ihnen durchkommen.
Mit Martin Frick sprach Frauke Niemeyer