Berlin findet Frankreichs Atomstrom jetzt klimafreundlich

Als Katherina Reiche am Donnerstag im Brüsseler Europagebäude über den roten Teppich lief, bekam sie eine brisante Frage zu hören: Ob es stimme, dass Deutschland und Frankreich ihren alten Streit beigelegt hätten und Berlin kein Problem mehr damit habe, Kernenergie als nachhaltig einstufen zu lassen. Die CDU-Wirtschafts- und Energieministerin antwortete mit einem klaren Ja: Man sei übereingekommen, dass Technologien, die kein CO₂ ausstoßen, »bevorzugt werden«.

Sogar eine Förderung französischer Atomanlagen mit EU-Mitteln, die rund zu einem Viertel von deutschen Steuerzahlern kommen, hält Reiche für vorstellbar – etwa, wenn es sich um kleine modulare Reaktoren handle. Die Mini-AKW gehörten zu jenen »neuen Technologien«, die man fördern wolle, sagte Reiche, ehe sie zum Treffen mit ihren EU-Ministerkollegen verschwand.

Umweltminister Schneider: Reiche hat »Privatmeinung« geäußert

Bundeskanzler Friedrich Merz habe damit »ohne Not jahrzehntealte Verhandlungspositionen in Brüssel aufgegeben«, sagt Sven Giegold, Vizeparteichef der Grünen. »Europäische Gelder für neue Atomkraftwerke auszugeben, wird Deutschland teuer zu stehen kommen.«

Auch die Reaktion des Koalitionspartners SPD ließ nicht lange auf sich warten. Deutschland lehne die Einstufung der Kernenergie als nachhaltig weiterhin ab, sagte Bundesumweltminister Carsten Schneider der Deutschen Presse-Agentur. »Äußerungen von einzelnen Mitgliedern der Bundesregierung, es gäbe hier eine neue Offenheit, sind Privatmeinungen.« Eine Positionierung der Bundesregierung »gibt es nicht und wird es mit der SPD auch künftig nicht geben«.

Damit ist nach dem Krach um das EU-Lieferkettengesetz, das Bundeskanzler Friedrich Merz entgegen der Vereinbarungen im Koalitionsvertrag komplett abschaffen will, erneuter Streit programmiert. Denn Reiche hat im Grunde nur bestätigt, was Merz und Frankreichs Präsident Emmanuel Macron Anfang Mai in einem gemeinsamen Gastbeitrag  in mehreren Zeitungen betont haben: Man wolle in Energiefragen den »Grundsatz der Technologieneutralität« umsetzen – und das bedeute, »die Gleichbehandlung auf EU-Ebene aller emissionsarmen Energien sicherzustellen«.

In einem internen Papier, auf das sich Berlin und Paris zwei Tage zuvor geeinigt hatten, wird das noch deutlicher formuliert. Man wolle »die Diskriminierung von Atomenergie auf EU-Ebene beenden«, heißt es in dem vierseitigen Dokument, das dem SPIEGEL vorliegt.

Auch an anderen Stellen liest sich das englischsprachige Papier, das den gleichen Titel trägt wie der später veröffentlichte Beitrag (»Ein französisch-deutscher ›Reset‹ für Europa«), wie eine schärfer formulierte Version des Zeitungsbeitrags. Aus Regierungskreisen ist zu hören, dass das Dokument eine informelle Verständigung zwischen Merz und Macron aus den Tagen vor seiner Wahl zum Kanzler sei, eine Art Ideensammlung – die allerdings zeigt, wohin die beiden wollen.

Neue EU-Richtlinie für erneuerbare Energien unerwünscht

Zwar geht es in dem Dokument auch um Handel, Sicherheit und Verteidigung, Migration und das Verhältnis zu den USA. Den größten Sprengstoff aber enthält das Kapitel »Energie«. Dort ist außer von Atomkraft auch die Rede davon, dass es keine neue Version der EU-Richtlinie für erneuerbare Energien geben solle. Die aktuell geltende dritte Auflage (»RED III«) hat der EU unter anderem das Ziel verordnet, ihren Energie-Gesamtverbrauch bis zum Jahr 2030 zu 42,5 Prozent aus erneuerbaren Quellen zu bestreiten.

Sollte es keine Novelle für die Zeit danach geben, hätte die EU keine Zielvorgabe mehr für den weiteren Ausbau der erneuerbaren Energien. Im deutsch-französischen Papier aber steht: »No RED IV«.

Dabei hat die Bundesregierung bisher nicht einmal Red III vollständig in nationales Recht umgesetzt, obwohl die Frist dafür am 21. Mai verstrichen ist. Der Bundesverband der Energie- und Wasserwirtschaft (BDEW) warnte, dass dadurch die Erleichterungen bei der Genehmigung von Windkraft- und Photovoltaikanlage wegfallen könnten. Der Bundesverband Erneuerbare Energie (BEE) sprach von einer »absurden Situation in den Genehmigungsbehörden«.

»›No Red IV‹ ist das Gegenteil von Genehmigungsbeschleunigung und Bürokratieabbau«, kritisiert Grünenpolitiker Giegold. »Die Bundesregierung untergräbt so Investitionssicherheit für eine Schlüsselbranche.«

Statt RED IV einzuführen, wolle man »an einem einzelnen Niedrig-CO2-Ziel arbeiten«, heißt es im deutsch-französischen Papier. Zudem wolle man »eine Prüfung aller EU-Energie- und Klimagesetze vorantreiben«. Das könnte man sogar als Forderung lesen, den gesamten Green Deal der EU – ein Paket aus mehr als 160 Gesetzesvorhaben – aufzuschnüren.

Der Green Deal sieht unter anderem vor, die EU bis zum Jahr 2050 klimaneutral zu machen. Bis 2030 soll ihr Treibhausgasausstoß um 55 Prozent gegenüber 1990 sinken. Für 2040 hat die EU-Kommission ein Ziel von 90 Prozent empfohlen .

Berlin und Paris scheinen anderer Meinung zu sein. Man wolle kein neues EU-Ziel für das Jahr 2040, »solange es keine Einigung über eine finanziell gestützte und glaubwürdige Strategie gibt, die die Wettbewerbsfähigkeit der EU sichert«.

Regierungssprecher Sebastian Hille sagte am Freitag in Berlin, dass er das Papier über die Einigung mit dem Élysée nicht kenne. Allerdings müsse die künftige Energieversorgung in Europa auf »Klimaneutralität, Wettbewerbsfähigkeit und Souveränität ausgerichtet sein«, weshalb man sich »auf die Reduzierung von CO₂-Emissionen und Technologieoffenheit« konzentriere. Darüber sei sich die Bundesregierung nicht nur mit ihren EU-Partnern »sehr einig«, sagte Hille. »So ist es auch im Koalitionsvertrag verankert.«

Kanzler Merz mit Präsident Macron in Paris: Kein Problem mehr mit Frankreichs Atomkraft

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Grünen-Vizechef Giegold: »Das wird Deutschland teuer zu stehen kommen«

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