»Wir sind fröhlich, wir wollen feiern. Hooligans halt, aber in sanft«
In der Lagerstraße am Hauptbahnhof von Zürich machen sich die schwedischen Fans gerade für ihren Marsch zum Stadion bereit, als sich eine junge Frau an ihnen vorbeischiebt, die eindeutig nicht dazugehört. Vor allem nicht jetzt, vor dem EM-Spiel gegen die Deutschen.
Es ist Lena Oberdorf, die vielleicht bekannteste deutsche Fußballnationalspielerin, die aufgrund der Folgen eines Kreuzbandrisses bei der EM in der Schweiz jedoch nur als Zuschauerin dabei sein kann.
Sie trägt eine schwarze, weite Hose und ein schwarzes Top, das fällt neben dem Schweden-Pulk besonders auf. Sie versucht, zu den deutschen Fans zu gelangen, die mehrere Hundert Meter weiter vorn stehen. Dafür muss sie am Block der knapp 5000 Schwedinnen und Schweden vorbei, vorbei an den Fahnen, den blau-gelb bemalten Gesichtern und Bannern. Vorbei an den Kindern mit der Trommel, die so entschlossen darauf einhämmern, als wären sie die Erben der schwedischen Rockband Europe.
Oberdorf kommt jedoch erstaunlich gut vorbei. Das kann zwei Gründe haben.
Sie wird nicht erkannt, obwohl sie eine auffällige Erscheinung ist. Oder es liegt daran, dass sich die schwedischen Fans herzlich wenig für ihre Gegnerinnen interessieren und Pöbeleien ihnen sowieso fremd sind.
Und damit könnte man nun sagen: Välkommen till Soft Hooligans. Willkommen bei den Soft Hooligans.
So nennt sich jedenfalls eine große Gruppe schwedischer Fans: die Soft Hooligans mit ihrer Anführerin Estrid Kjellman. Mit einem Megafon steht sie vor den 5000 in Gelb und Blau gekleideten Fans, vor Kindern, die in der ersten Reihe ein großes Banner durch die Gassen tragen. Und vor Großeltern und Eltern, die von der Seite aus beobachten, ob mit den Kindern alles in Ordnung ist.
Irgendwann steht Kjellman auch vor einem leicht angetrunkenen Mann aus dem Zürcher Bahnhofsviertel, den die Handvoll Polizisten sofort im Blick haben. »Wir kennen ihn«, sagt einer. Der Mann lallt etwas, aber man hört, was er will, nur ein paar Mal »Schweden, Schweden« mitsingen, dann würde er wieder abziehen. Die Schweden lassen ihn mitfeiern, schon bald zischt er wieder ab, friedlich.
Frontsängerin Kjellmann trägt einen gelben Fischerhut, ein Schwedentrikot und die Rückennummer 6 mit dem geflockten Namen »Soft Hooligans«. Sie sagt, dass im Prinzip jeder willkommen ist, der Lust auf Fußball hat und dies friedlich zum Ausdruck bringt, Sympathien für Schwedens Fußballerinnen wären allerdings vorteilhaft. »Damit das hier heute der größte Tag unserer Geschichte wird.«
Im Jahr 2017, zurückgekehrt aus den Niederlanden, wo sie gemeinsam mit ihrer Familie die Europameisterschaft verfolgt hatte, fasste Kjellman einen Entschluss. Die Atmosphäre im Stadion: elektrisierend, getragen von der Leidenschaft und Präsenz der niederländischen Fans – und doch lag ein unerwarteter Schatten über dem Erlebnis. Die Stimmung bei den Schweden, so Kjellmans Eindruck, war insgesamt erstaunlich gedämpft.
In Schweden, bei den Spielen der Männer, war sie eine andere Fankultur gewohnt: laute Gesänge, mitreißende Chöre, ein Gemeinschaftsgefühl, das die Ränge erbeben ließ. Genau dieses Feuer wollte sie auch im Fußball der Frauen entfachen. Noch im selben Jahr gründete sie ihre eigene Fangruppe. Inzwischen zählt die Community fast 5000 Mitglieder in einer Facebook-Gruppe.
Der Fußball entwickelt sich rasant: Das Spiel wird schneller, die Bedingungen professioneller und die Nachfrage wächst. Bereits vor Beginn der EM in der Schweiz wurde mit über 700.000 verkauften Karten ein neuer Ticketrekord aufgestellt. Bei der Endrunde werden zu jedem Spiel Fanmärsche organisiert, manche sind kleiner, manche größer. Und manche sind besonders euphorisch, wie der der Schweden.
Bei 26 Grad ist es heiß in Zürich, der Weg zum Letzigrund-Stadion rund drei Kilometer lang. Aus Ikea-Taschen – natürlich aus Ikea-Taschen – werden Wasserflaschen gereicht. Der Pulk zieht an Bars vorbei, Menschen machen Fotos und Videos von den feiernden Schweden und dem Banner mit der Aufschrift »Soft Hooligans«.
Kjellmann ist im echten Leben Ärztin. Sie sagt, dass große Fangruppen in fremden Städten erstaunen und befremden können. Dass Unbeteiligten dabei vielleicht schnell Bilder von zerstörten Innenstädten, kämpfenden Fangruppen oder aggressivem Verhalten in den Kopf schießen, verwundert nicht. Das hat es im Männerfußball in den vergangenen Jahrzehnten alles gegeben.
Mit ihrem Namen »Soft Hooligans« wollten sie aber den Gegensatz verdeutlichen: »Wir sind fröhlich, wir wollen feiern und unser Team unterstützen. Hooligans halt, aber in sanft.«
Party ohne Polizeistaffel
Nachgefragt bei einem der wenigen Polizisten, die den Marsch begleiten. Wie viele denn hier gerade mitlaufen würden? Fünf? Der Polizist möchte offenbar nicht den Eindruck erwecken, die Schweiz würde fahrlässig eine Großveranstaltung absichern und sei nicht vorbereitet, falls es zu einem ernsthaften Zwischenfall kommen sollte. Also sagt er: »Die Polizei ist überall in der Stadt.« Aber auch: »Ist aber schon sehr friedlich alles, die ganze EM.«
Am späteren Abend wird die Polizei gegenüber der Nachrichtenagentur Reuters bekannt geben, dass es am EM-Tag und im Stadion mit über 22.000 Fans keine einzige Verhaftung gegeben hat, nicht mal eine ernsthafte Auseinandersetzung.
Am Stadion ist Kjellmann kaum angekommen, da wird sie bereits von zahlreichen Fans umarmt. Dankesworte für den gemeinsamen Marsch, für ihren Einsatz am Megafon und für die Organisation hallen ihr entgegen.
Zwar unterstützt der schwedische Fußballverband die Gruppe logistisch, wie Kjellmann betont, doch der eigentliche Motor bleibt die Eigeninitiative – sie ist es, die die Bewegung stetig wachsen lässt.
Ein Symbol dafür: das bislang größte Projekt der Gruppe. 360 Quadratmeter misst das Gemälde, das Nationalspielerin Caroline Seger zeigt – flankiert von den Worten »Für immer unsere Kapitänin«. Es wurde bei Segers Abschied vor dem Länderspiel gegen Serbien im Dezember enthüllt – nach 240 Einsätzen im Nationaltrikot. Rund 170 Stunden Arbeit steckten in dem Werk, ein Team von zehn Engagierten malte zwei Tage lang in Schichten.
Nun hofft Kjellmann, dass sich der Einsatz lohnt und das Team getragen von den Fans durch die EM fliegt. Dass noch einige Partys in der Schweiz auf sie warten und sie bis zum Finale am 27. Juli bleiben können. Das Viertelfinale ist bereits erreicht, Europameister England wartet, gespielt wird wieder in Zürich, den Weg zum Stadion kennen sie nun.
Ob sie für die EM den gesamten Jahresurlaub genommen hat? »Ich habe meinen Job vor der EM gekündigt und fange im August einen neuen an«, sagt Kjellmann. Das müsse sie eigentlich alle zwei Jahre so machen, sagt sie. Also immer dann, wenn das nächste große Turnier für die Fußballerinnen ansteht. Und für die Soft Hooligans.
Soft-Hooligans-Gründerin Estrid Kjellman
Foto:Jan Göbel / DER SPIEGEL
Flaggen, Banner und Ikea-Taschen (v.r.) werden hinterher wieder eingesammelt und beim nächsten Mal erneut verwendet
Foto:Jan Göbel / DER SPIEGEL
Fanblock gegen Deutschland: Alle in Gelb
Foto: Sebastien Bozon / AFPFans beim Marsch durch die Gassen von Zürich
Foto: Sebastien Bozon / AFPDie Hochhäuser im Hintergrund, das bedeutet, das Stadion ist fast erreicht
Foto:Jan Göbel / DER SPIEGEL