Ein 92-Jähriger stellt dem DFB-Team die größtmögliche Aufgabe

Wenn jemand Gelassenheit beim DFB-Team vermittelt, ist es Torhüterin Ann-Katrin Berger. Die 34-Jährige bleibt bei ihren Dribblings ruhig, sie schert sich nicht um öffentliche Meinungen. Eine aber hört sie sich an: die von ihrem Opa. Und der möchte bitte zum Finale ins Stadion kommen.

Das Dessert schmeckte gut und musste noch aufgegessen werden, plauderte die Pressesprecherin aus. Der ein paar Minuten verzögerte Einstieg in die Pressekonferenz des DFB-Teams an diesem Mittwoch bei der Fußball-Europameisterschaft in der Schweiz gab die Richtung vor. Alles soll ganz locker sein bei den Frauen. Stress oder aufgebauschte Diskussionen werden vor dem Viertelfinale gegen Frankreich (Samstag, 21 Uhr/ZDF, Dazn und im ntv.de-Liveticker) nicht gebraucht.

Es passt zum vermittelten Gefühl, dass Ann-Katrin Berger auf dem Podium Platz nimmt. Die Torhüterin war nach ihrem riskanten Spiel mit Dribblings, die nicht nur Bundestrainer Christian Wück fast das Herz stocken ließen. Er hatte sie nach dem zweiten Gruppenspiel gegen Dänemark (2:1) kritisiert, sie müsse anders agieren, sagte er: "Sonst werde ich nicht alt." Ein Satz, der viel Aufmerksamkeit bekam.

Berger aber gibt sich gelassen wie immer. Während Wück vor dem Schweden-Spiel noch den Journalisten ankreidete, dass sie eine Torwart-Diskussion eröffnet hätten, habe sie die öffentliche Diskussion gar nicht verfolgt, sagt die Torhüterin, die schon vor elf Jahren aus der Bundesliga ins Ausland wechselte. Zunächst spielte sie für Paris Saint-Germain, dann wechselte sie zu Birmingham City, zum FC Chelsea und seit gut einem Jahr spielt sie für NY/NJ Gotham FC in den USA. Ein Abstand, den sie offensichtlich genießt: "Seit ich Deutschland verlassen habe, lese ich gar keine Nachrichten mehr. Auf den sozialen Medien bin ich sowieso nicht so aktiv."

Mit 33 Jahren zur Nummer 1

Es ist nicht die Art der 34-Jährigen, sich schnell aus der Ruhe bringen zu lassen. Zu viel hat sie bereits erlebt - zweimal den Kampf gegen den Schilddrüsenkrebs gewonnen. 2017 und 2022 war sie erkrankt, musste Tabletten mit niedrig dosiertem radioaktivem Jod schlucken, das erkrankte Zellen des Schilddrüsengewebes absterben lässt. Weil sie aber selbst wegen der Tabletten radioaktiv strahlt, wurde sie in einem Krankenhauszimmer isoliert. Es war die härteste Etappe der Therapie, trotz sechseinhalbstündiger Operation: "Die Radiojodtherapie war das Schlimmste von allem, weil du einfach vier Tage lang in einem Zimmer sitzt und nichts machen kannst." Zurück blieben Narben am Hals. Die Stelle ziert inzwischen der tätowierte Schriftzug "All we have is now". "Ich hatte Probleme mit den Narben, die ich von der Krebsoperation hatte. Sie haben mich gestört. Ich habe sie dann überstechen lassen, damit sie keiner sieht", sagte sie der "Bild": "So fragt mich jetzt nämlich jeder nach dem Tattoo und nicht mehr nach den Narben."

"Ich bin ein Mensch, der im Hier und Jetzt lebt", sagt sie daher auch passend zum Tattoo. Und doch sind die Erkrankungen natürlich Kapitel in ihrem Leben, die prägen. Ihre Lebensgefährtin Jess Carter erlebt es noch frisch in der Beziehung mit. Jetzt spielen sie beide bei dieser EM, denn Carter ist als Titelverteidigerin mit England ebenfalls fürs Viertelfinale qualifiziert, dort trifft sie auf die Schwedinnen, die ihre Verlobte besiegt hatten. Das Spiel findet in Zürich statt, wo die DFB-Frauen ihr Basecamp haben. Doch Berger nutzt die Chance nicht, um die Partie live im Stadion zu sehen. "Sie macht ihr Ding, ich mache mein Ding und dann wünschen wir uns einfach Glück und hoffen, dass nichts passiert. Und das war es eigentlich."

Der Fokus ist eben auf dem "Hier und Jetzt", das ist für sie ohnehin besonders. Erst seit vergangenem Jahr ist Berger die Nummer 1 des DFB-Teams. Sie musste 33 Jahre alt werden, um Stammtorhüterin zu sein. Etwas überraschend hatte Interimsbundestrainer Horst Hrubesch kurz vor den Olympischen Spielen die bisherige Nummer 1 Merle Frohms degradiert und Berger hochgestuft. Christian Wück übernahm - und blieb dabei. "Natürlich ist es ein sehr, sehr schönes Gefühl, als Nummer eins bei so einem Turnier aufzutreten. Hätte mich jemand vor drei Jahren oder vier Jahren gefragt, ob das passieren würde, hätte ich der Person wahrscheinlich einen Vogel gezeigt." Umso schöner sei es nun, "mit den Mädels auf dem Platz zu gehen und einfach nur Fußball zu spielen".

Meist bilden die Torhüterinnen dabei eine eigene Gruppe. Berger ist mit ihren Vertreterinnen Stina Johannes und Ena Mahmutovic sowie mit Torwarttrainer Michael Fuchs die Erste, die den Platz betritt, sie absolvieren ihr separates Training. "Also wir müssen auf jeden Fall zusammenhalten, weil die Feldspieler natürlich in Überzahl sind", so Berger über die eingeschworene Truppe. Es klingt nach einem kleinen, liebevollen Spielchen - Wir gegen Die. "Wir haben echt einen richtig guten Teamspirit", sagt sie und nennt ihre Gruppe die "Goalkeeper-Union". "Und die kann man einfach nicht so leicht brechen, auch wenn es die Feldspieler immer wieder versuchen", fügt sie mit einem Schmunzeln an.

Opa trägt mit 92 ihr Trikot

Natürlich bekommt sie aber trotzdem mit, was rund um sie herum passiert, wie das gesamte Team drauf ist. Und da ist sie durchaus selbstkritisch. "Nicht eine von uns hat wirklich ihr komplettes Talent zeigen können", sagt sie über die Niederlage gegen Schweden. "Mich inbegriffen. Ich hatte einfach auch nicht mein bestes Spiel. Aber nach der Analyse habe ich damit abgeschlossen." Der Fokus ist klar: volle Kraft voraus gegen Frankreich.

Denn Berger hat eine ganz persönliche Motivation: Ihr 92-jähriger Opa soll sie bei dieser EM noch einmal live im Stadion spielen sehen. Und dieser hat hohe Ansprüche: "Er hat gesagt, Viertelfinale, Halbfinale lohnt sich nicht. Dann kommt er nicht. Er meint es wirklich ernst. Ich habe versucht, ihn zu überreden, aber er ist eine harte Nuss." Also muss das DFB-Team schon das Finale erreichen. Hohe Erwartungen an das Team, das bei der EM bislang noch nicht voll überzeugte und gegen Frankreich nicht als Favorit ins Rennen geht. Im Halbfinale würden übrigens voraussichtlich die Weltmeisterinnen auf Spanien warten.

Berger aber will ihren Opa, der sich erst kürzlich ein Trikot übergezogen hat, unbedingt stolz machen. Auf das Urteil des "sehr, sehr strengen, aber liebenswerten Mannes" hört sie anders als auf das, was in der Öffentlichkeit gesprochen wird, dann doch. "Von ihm kriege ich entweder einen Daumen hoch oder einen Daumen runter." Den erhobenen Daumen gibt es nicht so oft, "das heißt schon was".

Wie ernst Berger die Kritik von ihrem Großvater nimmt, hatte sich auch schon bei den Olympischen Spielen im vergangenen Jahr gezeigt. Denn wenn die Nationalhymne läuft, dann hat die Torhüterin ein breites Grinsen im Gesicht. Weil ihr Opa gesagt hat, sie solle doch freundlich gucken. Er habe "vielleicht nicht so viel Ahnung vom Fußball", aber das Auftreten ist ihm sehr wichtig. "Manche denken wahrscheinlich, dass die ein bisschen verrückt ist", so Berger, "aber für meinen Opa würde ich alles machen".

Das könnte Ihnen auch gefallen