Als Thuram das Wunderkind tröstete
Zärtlicher Sieger
Die Ersatzspieler, die Betreuer, die gesamte Bank von Inter Mailand stürmte auf den Rasen. Davide Frattesi, Inters Siegtorschütze, rannte ihnen entgegen. Die Mailänder waren wie von Sinnen, jetzt, wo feststand, dass sie dieses epische Halbfinale gegen den FC Barcelona tatsächlich gewonnen hatten, 4:3 nach Verlängerung, nachdem das Hinspiel in Barcelona 3:3 geendet hatte. Es waren zwei Spiele für die Fußballgeschichtsbücher.
Aber im Augenblick des Siegs können auch Momente der Größe entstehen, das zeigte Inter-Stürmer Marcus Thuram. Inmitten des Jubels kümmerte er sich um einen der Verlierer dieses Halbfinals.
Thuram, 27, sah, wie der zehn Jahre jüngere Lamine Yamal auf dem Rasen saß. Yamal war der großartigste Fußballer dieser beiden Begegnungen gewesen, die Spiele dürften ihn zum Weltstar gemacht haben. Aber nun hockte er da und war geschlagen.
Doch so sollte er sich nicht fühlen, dafür waren seine Auftritte zu magisch. Vielleicht war es das, was Thuram durch den Kopf ging, als er zu Yamal schritt und ihn auf die Beine zog. Er umarmte das Wunderkind und redete einige Momente auf ihn ein. Yamal ließ das nicht nur zu, kurz lehnte er den Kopf gegen Thurams Brust. Zuvor war Yamal durch Inters Abwehr gedribbelt wie ein Fußballherrscher. Nun wirkte er zum ersten Mal wie das, was er ist: ein Teenager.
Er schrie, bis ihm schwindelig wurde
Noch so ein Bild, das sich einbrannte: der Torjubel des Davide Frattesi. Der 25-Jährige brüllte und schrie, dass die Adern an Stirn und Hals deutlich hervortraten.
Frattesi hat keinen leichten Stand bei Inter, der offensive Mittelfeldspieler sitzt oft auf der Bank, aber wenn er spielen darf, verausgabt er sich vollkommen – und er hat als Joker gewaltigen Einfluss auf das Spiel seiner Mannschaft.
Schon im Viertelfinale traf er nach seiner Einwechslung beim 2:1-Sieg beim FC Bayern München. Nun erzielte er das 4:3 gegen Barcelona. Einige Minuten später legte sich der Italiener auf den Rasen, er zeigte an, dass ihm schwindelig sei. »Ich habe so viel geschrien, dass ich am Ende alles schwarzgesehen habe«, sagte Frattesi hinterher über diese Kreislaufprobleme.
Der nackte Wahnsinn
Dass Frattesi jubeln durfte, hatte er diesem Mann zu verdanken: Francesco Acerbi. Denn Inter schien ja bereits geschlagen. In der 87. Minute hatte Barcelonas Raphinha das 3:2 erzielt. Also verließ Acerbi die eigene Position in der Abwehrmitte und marschierte in den Sturm.
Dort, aus der Position einer klassischen Neun heraus, gelang ihm tatsächlich der Ausgleich, der Inter in die Verlängerung rettete. Er feierte dies mit einem oberkörperfreien Sprint über den Rasen. Acerbi ist 37 Jahre alt, er hat mehr als 600 Pflichtspiele bestritten. So eines wie am Dienstagabend wird man darunter kein zweites Mal finden.
Das Traumtor, das die erste Wende brachte
Sieben Tore fielen in Mailand, dieses war vermutlich das Schönste. Es gelang Eric García, wie Acerbi ist auch er eigentlich ein Verteidiger. Aber Barcelonas Tor zum 1:2 erzielte er auf technisch brillante Weise, wie das eigentlich nur Spielmacher können.
Eine Flanke schoss er direkt aus der Luft ins Tor, er nutzte dabei die Innenseite des rechten Fußes und verlieh dem Ball exakt so wenig Druck, dass er nicht in Richtung Mailänder Himmel flog, sondern unter der Latte einschlug. Jetzt begann Barcelonas Aufholjagd.
Die Größe des Torwarts
»Oh mein Gott!«, rief Benedikt Höwedes. Der Weltmeister von 2014 ist Co-Kommentator bei Amazon Prime, er macht seine Sache kenntnisreich und durchaus eloquent. Aber nun brachte er nur diesen Ausruf zustande. Denn Yann Sommer hatte einen Ball gehalten, der eigentlich im Tor hätte landen müssen.
Nach einem ideal ausgespielten Konter kam erneut Eric García zum Abschluss, diesmal war seine Aufgabe eine viel leichtere, das Tor war beinahe leer. Doch diesmal traf er den Ball nicht perfekt und gab Sommer die Chance, den Arm hochzureißen.
Es war die spektakulärste von vielen Paraden des Schweizer Torhüters, der später als Mann des Spiels ausgezeichnet wurde und nach Abpfiff sehr angefasst war. Sommer, 36, wurde vor gut zwei Jahren vom FC Bayern an Inter verkauft, Trainer Thomas Tuchel war bekanntermaßen kein Fan des Torhüters, er befand ihn für zu klein. Nun kehrt Sommer nach München zurück. Am 31. Mai spielt er dort mit Inter im Endspiel der Königsklasse.
Der durchnässte Meistercoach
Auch dieses Bild war eindrücklich: Simone Inzaghi, wie er im vom Regen getränkten Anzug coacht. Auf Inters Trainer prasselten die Tropfen ein, während er an der Seitenlinie seine Spieler anzutreiben versuchte. Immer wieder schob er sie mit seinen Gesten aus der Abwehr nach vorn, seine Spieler verteidigten ihn offenbar zu tief. Das war in der Verlängerung so gewesen.
Zuvor hatten Inzaghi und Inter Barcelona das Leben schwer gemacht wie wohl kein anderes Team in dieser Saison. 2021 übernahm Inzaghi bei Inter, nun hat er das Team bereits zum zweiten Mal ins Finale der Champions League geführt.
Flicks Wut
Das ließ sich auch am Gemüt von Hansi Flick ablesen. Barcelonas Trainer geriet für seine Verhältnisse außer sich, als Acerbi das 3:3 gelang. War im Vorfeld nicht sein Verteidiger Gerard Martín unfair vom Ball getrennt worden? War er nicht, Flick hatte ein Foul gesehen, das nicht existierte.
Anschließend sah er selbst die Gelbe Karte. »Fast jede 50:50-Entscheidung war für Inter«, kritisierte der Coach später. Er sagte aber auch: »Wir werden nächste Saison zurückkommen.« Flicks Leistung beim FC Barcelona ist so bemerkenswert gut, dass man das sofort glaubt.
Gewinner Thuram mit Barças Yamal
Foto: Piero Cruciatti / AFPDer Jubelschrei des Davide Frattesi
Foto: Daniele Buffa / Gribaudi / ImagePhoto / IMAGOAbwehrkoloss Francesco Acerbi
Foto: Spada / LaPresse / IMAGOBarças Eric García (r.) trifft zum 1:2
Foto: Piero Cruciatti / AFPInter-Keeper Yann Sommer pariert gegen Eric García
Foto: Luca Bruno / picture alliance / APInter-Trainer Simone Inzaghi im Regen
Foto: Spada / LaPresse / IMAGOBarça-Coach Hansi Flick
Foto: Spada / LaPresse / IMAGO