Die Quergedanken sind frei

1. Kulturschaffende fordern den Stopp deutscher Waffenexporte nach Israel

Deutsche Intellektuelle und Künstlerinnen und Künstler haben sich in den vergangenen Monaten meinem Eindruck nach eher zögerlich zum Terror der Hamas gegen Israel und zur Kriegsführung Israels im Gazastreifen geäußert. Eine Ausnahme war der Schriftsteller Maxim Biller, der in einer »Zeit«-Kolumne in einem Halbsatz über die angeblich »strategisch richtige, aber unmenschliche Hungerblockade von Gaza« schrieb und mit seinem für mich unverständlichen Text viele Menschen empörte. (Mehr dazu hier.)

Nun haben mehr als 200 Kulturschaffende in einem offenen Brief Bundeskanzler Friedrich Merz aufgefordert, gegen das Leid in Gaza konkrete Schritte zu unternehmen und unter anderem die deutschen Waffenexporte an Israel zu stoppen. (Lesen Sie hier mehr.)

Joy Denalane und Karoline Herfurth, Joko Winterscheidt, Daniel Brühl und Benno Fürmann gehören zu den Unterzeichnerinnen und Unterzeichnern des Briefs, der mit »Lassen Sie Gaza nicht sterben, Herr Merz.« überschrieben ist. »Sie haben in den letzten Tagen Stellung bezogen und die israelische Regierung kritisiert«, heißt es in dem direkt an Merz gerichteten Text. »Wir würdigen das, doch eines ist klar: Worte alleine retten keine Leben.«
Neben dem Stopp aller deutschen Waffenexporte an Israel wird auch das Aussetzen des Assoziierungsabkommens zwischen der EU und Israel gefordert, ein sofortiger Waffenstillstand und ungehinderter Zugang für humanitäre Hilfe.

Ob der Brief Wirkung haben wird? Bundesaußenminister Johann Wadephul (CDU) ist heute zu einer Reise nach Israel aufgebrochen und sagte vor dem Abflug, er fordere Israels Regierung »dringend auf, der Uno und den internationalen Hilfsorganisationen sicheren Zugang und vor allem auch sichere und effektive Verteilung zu ermöglichen«. (Hier mehr dazu.)

  • Hier mehr Hintergründe: Mehr als 200 Kulturschaffende fordern Stopp deutscher Waffenexporte an Israel

2. Das Urteil im Prozess gegen Michael Ballweg ist eine Schlappe für die Staatsanwaltschaft

Mit welchen Gefühlen erinnern Sie sich an die Coronapandemie? Ich selbst denke mit Schaudern an die Qualität der öffentlichen Debatten während dieser Zeit zurück. Damals fanden es viele Menschen Deutschland schick, wissenschaftliche Erkenntnisse mindestens zu bezweifeln oder gleich zu leugnen und die von der Politik verfügten Maßnahmen zu bekämpfen.

Heute ist in Stuttgart der Prozess gegen Michael Ballweg zu Ende gegangen, der in der Coronazeit als Gründer der »Querdenken«-Bewegung eine zentrale Figur der regierungskritischen Proteste war und von Impfgegnern und Esoterikern geschätzt wurde. Das Gericht sprach Ballweg vom Vorwurf des Betrugs frei, befand ihn zugleich der Steuerhinterziehung schuldig – und verwarnte ihn. (Hier mehr.)

Im Prozess ging es nicht um Politik, sondern um Geld. Die Staatsanwaltschaft hatte Ballweg vorgeworfen, mehr als eine Million Euro für »Querdenken« eingeworben und die Unterstützer über die tatsächliche Verwendung der Gelder in die Irre geführt zu haben, so habe er angeblich eine halbe Million Euro für private Zwecke verwendet. Wegen der laufenden Ermittlungen saß Ballweg ab Juni 2022 mehrere Monate in Untersuchungshaft. Seit Herbst 2024 musste er sich vor Gericht verantworten. In ihrem Plädoyer in der vergangenen Woche hatte die Anklage unter anderem eine dreijährige Freiheitsstrafe gefordert, die Verteidiger plädierten hingegen auf Freispruch.

»Das Urteil ist eine Schlappe für die Staatsanwaltschaft, deren Vorwürfe wie ein Kartenhaus zusammengefallen sind«, sagt meine Kollegin Christine Keck, die den Prozess beobachtet hat. »Letztlich saß Ballweg für eine winzige Summe der Steuerhinterziehung mehr als neun Monate in Untersuchungshaft. Das steht in keinem Verhältnis zueinander.«

  • Lesen Sie hier die ganze Geschichte: Wo das Geld gelandet ist? Oft »schlicht nicht aufzuklären« 

3. Geflüchtete haben sich als Stresstest für Deutschlands Demokratie erwiesen

Zehn Jahre sind seit Angela Merkels zuversichtlicher Behauptung »Wir schaffen das« in der sogenannten Flüchtlingskrise des Jahres 2015 vergangen. Wie zutreffend ist dieser Satz aus heutiger Sicht? »Manchmal machen es sich wohlsituierte Beobachter des Geschehens ziemlich einfach, wenn sie nicht sehen, dass es durchaus Alltagskonflikte, Konkurrenzen, Fremdheitserfahrungen, Überforderungen und auch kulturelle Konflikte gibt«, sagt der Soziologe Armin Nassehi meiner Kollegin Maria Fiedler und meinem Kollegen Sebastian Fischer. (Hier das ganze Interview .)

Das Thema Migration prägt bis heute viele hitzige Debatten in Deutschland. Was ist in den zehn Jahren seit Merkels »Wir schaffen das« gelungen, was nicht?

Die Zahl der Geflüchteten stieg in dieser Zeit von 750.000 im Jahr 2014 auf 3,3 Millionen Ende 2024. Nach einem 2016 von Merkel und der EU mit der Türkei ausgehandelten Flüchtlingsdeal und während der Coronapandemie kamen weniger Menschen nach Deutschland, dann überfiel der russische Machthaber Wladimir Putin die Ukraine – und mehr als eine Million Menschen flohen nach Beginn des Kriegs nach Deutschland.

Man könne die Zeit seit 2015 gewissermaßen als Stresstest in Sachen Wohnraum, Arbeit, Bildung und Sicherheit verstehen für ein System, das auch ohne Flüchtlinge schon erhebliche Schwächen hatte, berichten meine Kolleginnen und Kollegen in der aktuellen SPIEGEL-Titelstory. »Wenn die Frage ist, ob wir es seit Merkels Satz geschafft haben, eine allzeit tolerante, multikulturelle, harmonische Gesellschaft zu werden, dann ist die Antwort: Nein. Aber das wäre auch zu viel verlangt gewesen. Eine freundliche Koexistenz, ein gutes Miteinanderklarkommen würde durchaus reichen.«

  • Lesen Sie hier die SPIEGEL-Titelstory: Ziemlich geschafft 

Was heute sonst noch wichtig ist

  • Wirtschaftsministerin Reiche sieht Sozialsysteme in Deutschland am Kipppunkt: »Der Kipppunkt rückt immer näher«, sagt Bundeswirtschaftsministerin Katherina Reiche. Sie fürchtet, dass Deutschlands Sozialsysteme dem Druck nicht mehr standhalten. Gefragt seien jetzt schnelle Reformen.

  • USA verhängen Sanktionen gegen Palästinensische Autonomiebehörde: Die USA werfen der Palästinensischen Autonomiebehörde und der Befreiungsorganisation vor, Terrorismus zu unterstützen. Die Konsequenzen sollen mehrere Mitglieder treffen.

  • Zahl der Unfälle mit E-Scootern steigt deutlich: 2024 gab es in Deutschland knapp 12.000 E-Scooter-Unfälle mit Verletzten, 27 Menschen starben. Im Vergleich mit anderen Verkehrsmitteln zeigen sich deutliche Unterschiede.

  • »Ich habe gerufen, es kam keine Reaktion«: Laura Dahlmeiers Tod beim Bergsteigen in Pakistan sorgt für Trauer und Entsetzen. Nun hat ihre Seilpartnerin Marina Krauss erstmals über den Unfall gesprochen. Und schildert den Moment des Steinschlags.

Meine Lieblingsglosse heute: Amthors schwierigste Aufgabe

Donnerstags finden Sie hier immer die Kolumne »So gesehen« meines Kollegen Stefan Kuzmany als Teil der Lage am Abend. Heute schreibt Stefan darüber, wie Philipp Amthor (CDU) die Bürokratie abbauen und den Staat modernisieren will:

Der CDU-Politiker Philipp Amthor nimmt in einem von ihm geleiteten Ausschuss den von der Koalition angekündigten Bürokratieabbau und die Modernisierung des Staates in Angriff. Dessen Ziel sei es, den Verwaltungsaufwand um »mindestens 25 Prozent« zu senken, die Zahl der Bundesbehörden zu überprüfen und Unternehmen von Berichtspflichten zu entlasten. »Statt immer weiterer Ankündigungen zählen jetzt Taten und messbare Erfolge für konsequenteres Sparen und für mehr Effizienz«, kündigte der Parlamentarische Staatssekretär im neuen Digitalministerium an.

Es ist keine einfache Aufgabe: Der deutsche Staat ist seit der erfolgreich umgesetzten »BundOnline«-Initiative (2001), dem »E-Government-Gesetz« (2013), der »Digitalen Agenda« (2014), der »IT-Konsolidierung Bund« (2015), dem »Onlinezugangsgesetz« (2017) und mit dem »Digitalcheck« (2023) bereits praktisch restlos durchmodernisiert. Und seit der ehemalige bayerische Ministerpräsident Edmund Stoiber (CSU) im Oktober 2014 seine sieben Jahre währende ehrenamtliche Tätigkeit zum Bürokratieabbau in der Europäischen Union erfolgreich abgeschlossen hat, sind die Bürokratiereserven auch in Deutschland nahezu erschöpft. Kritiker befürchten einen Raubbau: Amthor könnte die letzten verbliebenen natürlichen Bürokratievorkommen eliminieren und damit nachfolgenden Generationen die Chance nehmen, selbst Kommissionen zu deren Abbau einzusetzen.

Diese Sorge scheint allerdings unbegründet. Zur Erhaltung des »nationalen Kulturguts Bürokratie« und »als Beitrag zur nachhaltigen Generationengerechtigkeit« hat die Bundesregierung nach anfänglichem Zögern bereits Gegenmaßnahmen ergriffen: Die Einsetzung von 208 neuen Beamtenstellen für den Regierungsapparat gilt bereits als beschlossen. Viele davon werden Amthor unterstellt.

  • Alle Folgen »So gesehen« finden Sie hier

Was heute weniger wichtig ist

Tragischer Trennungsschmerz: Rupert Everett, 66, britischer Starschauspieler, trauert offensiv seiner Rolle als Serienfigur in »Emily in Paris« nach. Offenbar war er nur als Gast vorgesehen und wurde nach eigenen Angaben nicht einmal über das Ende seiner Serienfigur – er spielte einen Innenarchitekten namens Giorgio Barbieri – informiert. »Für mich war es eine Tragödie«, sagte Everett einer Zeitschrift. »Ich lag zwei Wochen lang im Bett, weil ich darüber nicht hinwegkommen konnte.«

Mini-Hohl

Hier finden Sie den ganzen Hohl.

Cartoon des Tages

Und heute Abend?

Könnten Sie sich zu Hause im Trockenen und Warmen ein wenig von der Musik anhören, die beim derzeit laufenden und wie fast immer verregneten Festival in Wacken angesetzt ist und hoffentlich auch zu hören sein wird.

Zum Beispiel die US-amerikanische Metal-Band Mastodon , die am Samstag auftreten soll.

Der Legende nach haben die Musiker ihren Bandnamen den Mastodonten zu verdanken, einer Familie der Rüsseltiere. Die Idee dazu kam dem einstigen Bandsänger und -gitarristen Brent Hinds angeblich, als er eines Tages eine seiner Tätowierungen zeigte und endlich mal wissen wollte, wie dieses Tier da eigentlich heißt, das wie ein urzeitlicher Elefant aussieht. (Sehen Sie sich hier und hier auch Eindrücke vom diesjährigen Wacken-Festival an.)

Einen schönen Abend. Herzlich

Ihr Wolfgang Höbel, Autor im Kulturressort

Joy Denalane, Jella Haase, Armin Rohde, Joko Winterscheidt, Anna Thalbach, Karoline Herfurth, Tedros »Teddy« Teclebrhan, Shirin David, Jochen Schropp, Ski Aggu (v.o.l.)

Foto:

[M] DER SPIEGEL / picture alliance; IMAGO

Michael Ballweg

Foto: Marijan Murat / dpa

»10 Jahre nach ›Wir schaffen das‹« lautet der Titel des neuen SPIEGEL. Die Ausgabe erhalten Sie hier digital und ab Freitag am Kiosk.

Philipp Amthor

Foto:

Jens Büttner / dpa

Foto:

Everett Collection / IMAGO

Aus dem »Nordkurier«

Entdecken Sie hier noch mehr Cartoons.

Foto:

Chappatte

Foto: DER SPIEGEL

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