Europa wetzt furchtsam die Krallen

1.Die EU hat trotz eines Gegenzoll-Pakets schlechte Karten im Zollstreit

In der »Ballade von der Unzulänglichkeit menschlichen Planens« hat Bertolt Brecht gedichtet: »Ja, mach nur einen Plan! Sei nur ein großes Licht! Und mach dann noch ’nen zweiten Plan. Gehn tun sie beide nicht.« Heute hat sich die EU auf mögliche Gegenzölle für den Fall geeinigt, dass der Zollstreit mit den USA eskaliert. Die Liste sieht mögliche Gegenzölle von bis zu 30 Prozent auf US-Exporte in die EU vor, wenn die Verhandlungen scheitern; das Paket hat einen Wert von mehr als 90 Milliarden Euro.

Mein Kollege Simon Book hat mit dem US-Ökonomen Adam Posen über den Zollstreit gesprochen. Posen sagt, dass selbst eine vorläufige Einigung keine stabilen wirtschaftlichen Zustände bringen werde (hier das ganze Interview ).

»Auch wenn Trump morgen verkündet: Wir haben einen Deal. Dann ist doch die Frage: für wie lange?«, so Posen. »Amerika ist der größere Verlierer. Eindeutig. Wir zerstören die Beziehungen zu unseren engsten ökonomischen Verbündeten, heizen die Inflation durch die Zölle an, ruinieren Profite.«

Das erste Mal in seiner langen Karriere hoffe er auf eine große Wirtschaftskrise in den USA, sagt Posen. Er habe den europäischen Verantwortlichen von jeglicher Vergeltung abgeraten. »Ich sage nicht, dass solche Zölle völlig nutzlos sind. Ich glaube nur, sie würden nicht dazu führen, einen zu allem entschlossenen Präsidenten umzustimmen.«

  • Hier das ganze Interview: »Amerika ist der größere Verlierer. Eindeutig« 

2. Die israelischen Kriegsverbrechen in Gaza lassen sich auch von der deutschen Regierung nicht länger ignorieren

»Ändere die Welt. Sie braucht es«, hat Bertolt Brecht gefordert, der in fast allen Lebenslagen ein Moralist war. Meine Kolleginnen Juliane von Mittelstaedt und Malak Tantesh und mein Kollege Thore Schröder berichten jetzt über die schrecklichen Zustände in Gaza nach fast 22 Monaten Krieg. Laut Uno sind jetzt 88 Prozent des Gazastreifens unter direkter israelischer Militärkontrolle oder Evakuierungszone. Für die mehr als zwei Millionen Menschen dort bleibt eine Fläche kaum größer als der Berliner Bezirk Mitte, zersplittert in drei palästinensische Inseln, umgeben von israelischem Militär.

»Immer drängender stellt sich die Frage: Ist das überhaupt noch ein Krieg, also ein Kampf gegen die Terrororganisation Hamas, die am 7. Oktober 2023 Israel überfallen hat?«, schreiben die Kolleginnen. »Geht es noch in erster Linie darum, die letzten aus Israel entführten rund 50 Geiseln zu befreien, davon 20 vermutlich am Leben? Oder geht es inzwischen vielmehr darum, die Lebensgrundlage der Palästinenserinnen und Palästinenser in Gaza dauerhaft zu vernichten?« (Hier die ganze Geschichte .)

Die politische, militärische und moralische Katastrophe in Gaza geschehe mit deutscher Billigung, kommentiert mein Kollege Mathieu von Rohr.

Die Ungeheuerlichkeit der israelischen Kriegsverbrechen in Gaza lasse sich schon länger nicht mehr leugnen. »Nun hat sich die Lage noch einmal dramatisch zugespitzt: Die Regierung von Benjamin Netanyahu hungert die Menschen im Gazastreifen aus, vertreibt sie in immer kleinere Gebiete und hat angekündigt, langfristig alle zwei Millionen Einwohner in ein riesiges Lager zu sperren«, so Mathieu. Deutschland trage eine besondere Verantwortung, die sich aus dem Menschheitsverbrechen des Holocaust ergibt. »Wer aus der deutschen Geschichte ableitet, Deutschland müsse an Israels Seite stehen, selbst dann, wenn es schwere Verbrechen begeht, der pervertiert diese Verantwortung.«

  • Lesen Sie hier den Leitartikel: Ein Hungerkrieg mit deutscher Beihilfe 

3. Jenseits der 7000-Schritte-Marke beginnt die Sporttreiberei

Dass ein gewisses Maß an täglicher Bewegung die Gesundheit fördern soll, wissen auch Menschen, die wie ich sehr viel Zeit auf einem Stuhl am Schreibtisch verbringen. Dabei gilt den meisten Leuten die Marke von 10.000 Schritten pro Tag als magische Größe. Nun verkündet eine neue Studie, dass der gewünschte Effekt schon mit weniger Bewegung erreicht werden könnte.

Wer 7000 Schritte am Tag geht, dürfte das Risiko für schwerwiegende Erkrankungen erheblich senken, heißt es in der Studie. So verringerten schon 7000 Schritte das Risiko, an Demenz zu erkranken, wohl um 38 Prozent, das Risiko für Depressionen um 22 Prozent und das Risiko für Diabetes um 14 Prozent. Die Untersuchung bestätigt ältere Forschungsergebnisse, die auch schon Zweifel  an der wohl wissenschaftlich nicht fundierten 10.000-Schritte-Empfehlung begründeten.

»Bewegung ist gut. Noch besser ist, wenn etwas weniger Bewegung auch noch gut genug ist«, sagt mein Kollege Sven Scharf. Wer bislang 10.000 Schritte pro Tag für sich als unrealistisch hielt, habe nun möglicherweise eine Ausrede weniger. »7000 Schritte schafft man – über den Tag verteilt – in ungefähr einer Stunde.« Eine Stunde leichte Bewegung für ein geringeres Risiko, an vielen verbreiteten Leiden und vielleicht auch an Krebs zu erkranken. Mit dieser Aussicht sei jeder Schritt, findet Sven, »ein, na ja, Schritt in die richtige Richtung«.

Der Gesundheitsmuffel Bertolt Brecht schrieb übrigens: »Der große Sport fängt da an, wo er längst aufgehört hat, gesund zu sein.«

  • Hier mehr dazu: Sie müssen doch keine 10.000 Schritte am Tag laufen

Was heute sonst noch wichtig ist

  • CSU kann sich neues Personal für Richterwahl vorstellen: Im Streit über die Besetzung dreier Posten am Bundesverfassungsgericht bringt die CSU einen Rücktritt aller bisher genannten Kandidaten ins Spiel. »Wir müssen aus dieser Situation rauskommen«, sagt Landesgruppenchef Hoffmann.

  • Jeder neunte Beschäftigte arbeitet mehr als vertraglich vereinbart: 4,4 Millionen Arbeitnehmer haben im vergangenen Jahr laut Statistischem Bundesamt Überstunden gemacht. Besonders in einem Bereich sind sie demnach häufig. Laut den Gewerkschaften liegen die Zahlen aber viel höher.

  • PFAS-Chemikalien gelangen über Plazenta und Muttermilch in Körper von Kindern: Schädliche PFAS-Chemikalien befinden sich in vielen Alltagsgegenständen. Eine US-Studie kommt zu dem Ergebnis, dass schon Föten die sogenannten Ewigkeitschemikalien aufnehmen. Das wirkt sich auf deren Immunsystem aus.

  • ADAC rechnet mit »extremen« Staus am Wochenende: Ferienzeit ist Stauzeit: Da außer Bayern und Baden-Württemberg am Wochenende Schülerinnen und Schüler in allen Bundesländern freihaben, müssen Reisende auf deutschen Autobahnen am Wochenende Geduld mitbringen.

Meine Lieblingsglosse heute: So will Linnemann den Streit um die Richterwahl beilegen

Donnerstags finden Sie hier immer die Kolumne »So gesehen« meines Kollegen Stefan Kuzmany als Teil der Lage am Abend. Heute schreibt Stefan über den Koalitionsstreit über die Wahl der Rechtswissenschaftlerin Frauke Brosius-Gersdorf zur Richterin des Bundesverfassungsgerichts.

Im fortgesetzten Koalitionsstreit über die Wahl der Rechtswissenschaftlerin Frauke Brosius-Gersdorf zur Richterin des Bundesverfassungsgerichts kündigt Carsten Linnemann an, das Problem »hinter den Kulissen« lösen zu wollen. Zwar hätte auf die Vorbehalte gegen die Kandidatin in der Unionsfraktion »schneller reagiert werden müssen«, allerdings gebe es gegen die bisher von der SPD nominierte Kandidatin »viele ernst zu nehmende Einwände, unter anderem von den Kirchen, aber auch von Juristen und Medizinethikern«.

Als ersten Schritt schlägt der CDU-Generalsekretär nun vor, den Konflikt »positiv umzudeuten«: »Es ist doch wunderbar, dass sich gerade so viele Bürgerinnen und Bürger wie nie zuvor mit der Besetzung unseres höchsten Gerichts beschäftigen«, sagte Linnemann im Gespräch der Sportzeitschrift »Kicker«. Auch persönlich habe er »überraschende Lerneffekte« zu verzeichnen: »Ich kann mittlerweile den Namen Brosius-Gersdorf buchstabieren, ohne ihn nachschlagen zu müssen.« Mit der richtigen Motivation sei das menschliche Gehirn zu erstaunlichen Höchstleistungen fähig, das sei doch auch für den Koalitionspartner SPD »ein Achtungserfolg«.

Insgesamt gelte es, in der Koalition eine Mentalität zu verankern, die auch ungewöhnliche Lösungsansätze denkbar mache. Dafür will Linnemann nun eine Motivationsprämie für die Abgeordneten der Koalitionsfraktionen ausloben: Der beste Vorschlag soll mit einem Sport- und Grillnachmittag mit Linnemann und dem Schauspieler Ralf Moeller (»Gladiator«) ausgezeichnet werden, als zweiter Preis winkt ein Schnitzelessen mit Philipp Amthor in Berlin. Dritter Preis: ein 1000-Euro-Gutschein für den CDU-Shop. Aus der SPD sind noch keine Reaktionen auf Linnemanns Pläne bekannt, dennoch gibt sich der Parteistratege zuversichtlich: »Wir kriegen das hin.«

  • Alle Folgen »So gesehen« finden Sie hier

Was heute weniger wichtig ist

Zunehmend unglücklich: Benedict Cumberbatch, 49, britischer Schauspieler, musste für Rollen wie die des Doctor Strange nicht bloß ein hohes Trainingspensum absolvieren, um Muskeln aufzubauen, sondern auch weit über seinen Appetit hinaus eine Menge essen. »Man braucht diese Kraft, um die Statur zu halten«, sagt er in einem Podcast. »Du fühlst dich stark und selbstbewusst.« Gleichzeitig sei das ganze Prozedere »grauenhaft«. Mitunter frage er sich in solch einer Fressphase, was er tue. »Mit dem, was ich esse, könnte ich eine ganze Familie ernähren.«

Mini-Hohl

Hier finden Sie den ganzen Hohl.

Cartoon des Tages

Und heute Abend?

Könnten Sie sich die achtteilige israelische Serie »The German « beim Streaminganbieter Magenta TV angucken, in der Oliver Masucci die Hauptrolle eines ehemaligen Auschwitz-Häftlings und Undercover-Agenten spielt. Wie die erstklassigen israelischen Spionageserien »Fauda« und »Prisoners of War« erzähle auch diese Serie »von der Schuld, die man auf sich laden muss, um einer größeren Gerechtigkeit zu dienen«, schreibt mein Kollege Christian Buß. »Und wie diese Schuld letztendlich diejenigen zu zerfressen droht, die sie auf sich laden.« (Hier mehr dazu .)

Oder aber Sie sehen sich heute Abend das aktuelle SPIEGEL-Spitzengespräch an. Über das Thema »Ist künstliche Intelligenz Fluch oder Segen?« diskutieren Digitalexperte Sascha Lobo, Ethikerin Alena Buyx und KI-Pionier Jonas Andrulis. Es geht um bedrohte Jobs, mögliche Gefahren für die Menschheit – und darum, ob man sich in KI verlieben kann.

Einen schönen Abend. Herzlich

Ihr Wolfgang Höbel, Autor im Kulturressort

Autoherstellung im deutschen Rastatt: »Es muss den Amerikanern klar werden, dass die Kosten von Trumps Politik enorm sind«

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Eine Gruppe von Frauen nach einem Lauf

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Aus dem Kölner »Express – Die Woche«

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Chappatte

Spitzengespräch: »Es gibt eine Chance von 20 Prozent, dass KI in eine Art von Abgrund führt«

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DER SPIEGEL

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