Ich sehe schon jetzt, was meine Tochter mit Downsyndrom besser kann als ich

Es gibt so etwas wie einen natürlichen Kreislauf der Hilfsbedürftigkeit: Viele Jahre zeigen die Eltern ihrem Kind, was notwendig ist, um in der Welt zu bestehen. Viele Jahre können Mutter und Vater etwas besser als ihr Kind. Irgendwann aber holt das Kind nicht nur auf. Es überholt vielleicht sogar die Eltern, die im Alter selbst Unterstützung brauchen.

Wer ein Kind mit einer geistigen Beeinträchtigung hat, ist nicht Teil dieses Zyklus. Mein Mann und ich werden, was unsere intellektuellen Fähigkeiten anbelangt, wohl noch lange unserer Tochter überlegen sein. Einerseits. Andererseits sehe ich schon jetzt, was unsere Zweitklässlerin mit Downsyndrom besser kann als ich.

Sie liebt es zum Beispiel, im Freibad vom Sprungbrett zu springen. Diesen Sommer hat sie mit dem Einer angefangen. Ich bin mir sicher, im nächsten Sommer wird sie das Drei-Meter-Brett erobern. Schon jetzt steigt sie geschickt die rutschige Wendeltreppe zur Riesenwasserrutsche hinauf und stürzt sich allein die Röhre hinunter, bäuchlings.

Ich hoffe, ich bringe Ihr Weltbild nicht ins Wanken, wenn ich verrate, dass es SPIEGEL-Redakteurinnen gibt, die sich in ihrem ganzen Leben noch nicht getraut haben, vom Dreier zu springen.

Etwas anderes aber imponiert mir bei meiner Tochter noch mehr als ihre Sprunglust. Es ist die Selbstverständlichkeit, mit der sie sich mit ihren Schwächen zeigt. Ich habe neulich davon erzählt, wie freundlich die Leute bei unserem Bäcker warten, bis unsere Tochter ihre Bestellung losgeworden ist.

Ich glaube schon, dass unsere Tochter merkt, dass andere ihre Sätze nicht so gut verstehen. Mal fehlen ihr die richtigen Worte, ihre Aussprache ist oft nicht klar und der Satzbau eher unkonventionell. Sensibel wie sie ist, registriert sie gewiss die Irritation und die Unsicherheit, die sich im Gesicht des Gegenübers abzeichnen. Und natürlich bekommt sie auch die Nachfragen mit. Das alles aber stört sie nicht. Jedes Mal aufs Neue öffnet sie mit Schwung die Tür zum Bäcker, wirft mir ein gebieterisches »Mama, bitte draußen warten!« zu und managt mit großer Geste ihren Einkauf. Und wir essen dann zu Hause, was sie in der Tüte hat.

Ich habe in meinem Leben eine andere Strategie entwickelt. Ich zeige mich gern in dem, was ich gut kann – und habe Angst vor Situationen, von denen ich annehme, dass sie meine Schwächen offenbaren.

Die Selbstbewertung und die Bewertung anderer sind mir in Fleisch und Blut übergangen und, ehrlich gesagt, beobachte ich dies bei den meisten Menschen, die ich kenne. Anders unsere Tochter mit Downsyndrom: Sie ist freigiebig mit Komplimenten, spricht gern mit jedem, der ihren Weg kreuzt. Es sei denn, sie ist gerade bockig. Dann redet sie noch nicht einmal mit mir.

Viele ihrer Fähigkeiten hat unsere Tochter übrigens auf Campingplätzen trainiert. Dort ist sie das erste Mal allein zum Laden gegangen und hat Duschgel gekauft. Dort hat sie in schwappenden Chlorbrühen schwimmen gelernt, und dort hat sie diese Haltung entwickelt, die sie ausmacht: Hallo Leben, ich komme! Warum wir unser geliebtes Wohnmobil nach sieben Jahren »Monstertouren« trotzdem verkauft haben? Tja, das ist eine andere Geschichte: Ich fand dich immer hässlich, aber du warst gut zu uns. Lebe wohl! 

Meine Lesetipps

Auch das »Uno«-Spiel haben wir im Wohnmobil begonnen. Was so lapidar klingt, ist für mich eine tolle Sache. Denn endlich muss ich mich nicht mehr schlecht fühlen, weil ich mich dem exzessiven Arztspiel, das sich abwechselt mit exzessivem »Restaurant«-Spiel, zunehmend verweigere. Es mag Mütter geben, die geduldiger sind als ich beim Rollenspiel. Für mich gilt: »Langeweile ist eine Form von Stress«.  Mit großem Gewinn habe ich deswegen den Text meiner Kollegin Heike Klovert gelesen, die erklärt, warum gutes Spielen ganz leicht geht.  Und wie Sie Ihrem Kind nah sein können, ohne für Stunden imaginäre Beinbrüche zu kurieren.

Ich genieße es trotzdem, dass wir den Sprung zum Gesellschaftsspiel geschafft und endlich beide richtig Spaß haben. Schließlich markiert dies auch einen Entwicklungsschritt, wie ich seinerzeit bei meiner Kollegin Maren Keller  gelesen habe. Der Weg, schreibt sie, beginne beim »Explorationsspiel«, bei dem Säuglinge die Welt mit ihren kleinen Händen be-greifen. Er führe über das Fantasie- und Rollenspiel, das Kinder in ihrer eigenen Welt versinken lasse, zum Konstruktionsspiel und der Freude, etwas zu erschaffen. Und dann komme das sogenannte Regelspiel.

Dass unsere Tochter beim »Uno«-Spiel das Erkennen von Zahlen und die Einhaltung von Regeln übt, ist ein schöner Nebeneffekt. Interessant finde ich, dass sie durch das Spiel auch ihre Weltsicht erweitert. Sie realisiert, dass man ein Kartenblatt hat, das einem zugeteilt wird – und das sich manchmal ungerecht anfühlt. Und dass es darum geht, das Beste aus einer schlechten Ausgangslage zu machen.

Wenn ich zweimal hintereinander gewinne, sagt sie: »Jetzt ich dran!« Nachdem man also dem Nachwuchs mühsam beigebracht hat, dass Abwechseln beim gemeinsamen Spiel wichtig ist, muss man jetzt erklären, dass sich Siege und Niederlagen im Leben leider nicht immer brav abwechseln, sondern auch mal in Serie kommen. Und dass man trotzdem weder schummeln noch aufgeben darf. Die Professorin für Entwicklungspsychologie Bettina Lamm findet: »Generell sind Gesellschaftsspiele eine gute Übung für die Frustrationstoleranz.«

Anfangs habe ich meine Tochter oft gewinnen lassen. Doch mittlerweile ist sie tapfer genug für würdevolle Niederlagen. Und so gratulierte mir neulich ein flauschiger Frosch mit Handschlag zum Sieg, und unsere Tochter piepste frosch-wedelnd mit verstellter Stimme: »Schön, Sandra!«

Noch schöner aber ist, wenn unsere Tochter mit blitzenden Augen »Uno« ruft und danach tatsächlich regelkonform die letzte Karte ablegt. Dann freuen wir uns beide über ihren Triumph, die eine laut, die andere leise.

Was kann Ihr Kind besser als Sie? Schreiben Sie mir gern Ihre kleinen Familiengeschichten an: familiennewsletter@.de .

Ferienzeit ist Spielezeit

Da wir bald in den Urlaub aufbrechen, habe ich meine Kollegin Maren Hoffmann gefragt, ob sie ein paar Empfehlungen für große und kleine Sieger hat. Denn Maren ist nicht nur Mitglied in der »Spiel des Jahres«-Jury (Hier geht’s zum Spiel des Jahres 2025). Sie verbringt ihre Freizeit gern am Spieltisch, kennt die Feinheiten jedes Regelwerks (siehe: Spielen Sie das auch immer falsch? ) und hat mir sofort einen Schwung Spieletipps geschickt, zum Beispiel »Nadel im Heuhaufen« für jüngere Kinder, Vorschläge für den Brettspielspaß zu zweit oder Ausflüge in bessere Welten.

Und sie philosophiert gern über das »Glück aus der Schachtel«: »Brettspiele lösen natürlich keine Probleme. Aber sie bieten Probleme, die sich lösen lassen. Angesichts einer Welt, die voll von Problemen ist, die sich eben nicht ohne Weiteres lösen lassen, ist das schon sehr viel – und alles andere als nur nettes Beiwerk. Denn wer spielt, reduziert nicht nur die Komplexität der Welt für eine Weile auf ein erträgliches Maß. Beim Spielen können wir uns selbst und andere neu erleben – und die tröstliche Erfahrung machen, dass sich in diesem geschützten Raum alle an gemeinsame Regeln halten. Das Vertrauen auf diese Verlässlichkeit bleibt und strahlt heilsam zurück auf das Leben jenseits des Spieltischs.«

Das jüngste Gericht

Verlässlich gut finde ich übrigens die Tipps in unseren neuen SPIEGEL Extra GENUSS-Ausgaben. Wenn Sie auch so gern frühstücken wie ich, sollten Sie diese Gedanken zum Ei  nicht verpassen. »Meine Ansprüche an das Ei sind hoch«, schreibt mein Kollege Claudio Rizzello, »höher als an die meisten anderen Lebensmittel. Ich erwarte Perfektion.« Oder Sie bleiben locker und machen ein Eiercurry nach dem Rezept unserer Kochkolumnistin Verena Lugert, die ein schönes Sprichwort aus Indien und Sri Lanka mitliefert: »Abwechslung ist die Würze des Lebens.«

Mein Moment

Welche Vor- und Nachteile gibt es, wenn man als Familie in der Großstadt oder »auf dem Land« lebt? Dazu erreichten mich nach meinem letzten Newsletter folgende Zeilen einer Leserin: »Meine Kinder sind Grundschüler, und da geht das Landproblem schon los. Die Schule am Ort bietet drei Tage Betreuung bis 15.45 Uhr an. Für mich als Selbstständige unmöglich. Also umgeschaut und im Nachbarort eine Ganztagsbetreuung bis 17 Uhr gefunden. (…) Dann wurde an Weihnachten kurzerhand die Betreuung geändert und gekürzt. Ergebnis: Wir fahren noch eine Ortschaft weiter (…)

Damit kommen wir gleich zum nächsten Thema: öffentliche Verkehrsmittel. Es fährt zu den Schulzeiten kein passender Bus, sodass wir immer die Kinder zur Schule bringen müssen. Wenn man bei uns die Öffentlichen benutzt, ist es immer gleich eine Odyssee. Und nun zum schlimmsten Thema überhaupt: die medizinische Versorgung. (…) Zum Glück sind meine Kinder selten krank und brauchen keinen Spezialisten.«

Das Fazit unserer Leserin: »Viele Menschen fühlen sich hier vergessen.«

Und so endet ihr Leserbrief mit einer Portion schwarzen Humor: »Aber dafür können meine Kinder allein draußen spielen und machen nun sogar schon manchmal allein eine Fahrradtour. Ich gebe ihnen dann für Notfälle mein altes Handy mit. Ob sie Empfang haben? Eher unwahrscheinlich...«

Unser SPIEGEL »Elternabend« in Hamburg

Ich möchte Sie an dieser Stelle auf ein neues Angebot hinweisen: Den SPIEGEL Elternabend gibt es ab sofort auch als Live-Veranstaltung, exklusiv für Abonnentinnen und Abonnenten.

Am Donnerstag, den 18. September, laden wir Sie dazu herzlich ins SPIEGEL-Haus nach Hamburg ein, um mit uns – den Autorinnen und Autoren dieses Newsletters und unserer Elternkolumnen – zu diskutieren. Beginn ist um 18 Uhr. Das Thema des ersten SPIEGEL-Elternabends lautet: »Ich krieg die Krise – Umgang mit kleinen und großen Katastrophen in der Familie.«

Los geht es um 18 Uhr. Hier können Sie sich anmelden und für die Veranstaltung registrieren.

Das Kontingent ist limitiert, Anmeldungen werden in der Reihenfolge berücksichtigt, in der sie bei uns eingehen. Aber keine Sorge: Diese erste Veranstaltung soll nur der Auftakt zu einer Reihe von Elternabenden sein. Wenn Sie am 18. September nicht dabei sein können, bietet sich bestimmt schon bald eine neue Chance.

Sehen wir uns? Ich würde mich freuen!

Herzlich,
Ihre
Sandra Schulz

Mädchen mit Downsyndrom: Hallo Leben, ich komme! (Symbolbild)

Foto: Iryna Inshyna / Getty Images

Wohnzimmerakrobatik: »Mama, guck mal!«

Foto:

Guido Mieth / Getty Images

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