Der hat Nerven

Album der Woche:

Schon auf dem letzten Album seiner Band Die Nerven haderte Julian Knoth mit seinen ozeanischen Gefühlen. »Irgendwo, zwischen jetzt und hier, bin ich ganz bei mir«, sang er im Herbst 2024, doch so ganz überantworten wollte, konnte er sich dem Wogen der Ewigkeit dann doch nicht: »Ich schreie lauter als das Meer«, lauter als die Wellen, brüllte der Bassist, und seine Mitspieler, Gitarrist Max Rieger und Schlagzeuger Kevin Kuhn, entfesselten den kathartischen Lärm, für den sie bekannt und in der deutschen Indierock-Szene berühmt geworden sind. Aber was ist, wenn das ganze Brüllen und Dröhnen gegen den dunklen Sog nichts nützt? Wenn das Meer ein Ozean der Depression ist, der einen hinabziehen will?

Man kann davon ausgehen, dass der Text von »Bis ans Meer«, der Song vom Nerven-Album »Wir waren hier«, ein Bestandteil jener Lyrics war, die Knoth im Coronajahr 2020 in einem Zustand mentaler Krise verfasste. »Selbstentblätterung, Depression, Konsum, Abstinenz, Therapie, Hoffnung«, sind die Stichworte, die der aus Schwaben stammende Musiker seiner Plattenfirma knapp in die Album-Presseinfo diktierte. So richtig zu den Bands, in denen Knoth neben den Nerven sonst noch aktiv ist oder war, darunter das Peter Muffin Trio, Die Benjamins oder Yum Yum Club, wollten die Stücke nicht passen. Sie waren zu roh, zu intim, er hatte sie allein an der akustischen Gitarre aufgenommen.

Von Max Rieger, dem erfolgreichen Produzenten und Solokünstler (All diese Gewalt) kennt man die Alleingänge; nach 15 Jahren Die Nerven schien nun aber auch für Julian Knoth die Zeit für ein erstes Soloalbum gekommen zu sein. »Unsichtbares Meer« blendet nicht nur den Ozean aus, sondern auch den Lärm. Es ist ein streng reduziertes Singer/Songwriter-Debüt, das durch seine Verletzlichkeit in Sound und Inhalt unmittelbar berührt.

Es beginnt zu rhythmisch angeschlagener Gitarre. Der Protagonist ist nur innerlich taub und gelähmt, er bleibt trotzdem in Bewegung: »Der Regen« fällt ihm auf dem Kopf, macht seine Haare nass, der Wind peitscht ihm ins Gesicht, »doch das alles spür’ ich nicht«, singt Knoth mit jenem beunruhigenden Fatalismus, dem unterschwelligen Fieber in seinem Gesang, den man auch aus den von ihm gesungenen Nerven-Songs kennt.

Im zweiten Song berührt ihn noch nicht mal mehr ein Lied. Man macht sich Sorgen. Doch dann breitet sich in der Musik plötzlich eine erlösende, keine suizidale Ruhe aus. »Die Stille kam heute früh«, singt Knoth plötzlich hell und offen heraus.

Streicher des Trios Abstrich gesellen sich zur Gitarre, auf einmal wird das Klangbild optimistischer, wärmer, in den späteren Songs wird aus bleiernem Geklampfe sogar beschwingter Country-Folk. »Nach vorne führt kein Weg zurück«, stellt Knoth fest – und tastet sich, gepusht von seiner neuen, immer vehementer werdenden musikalischen Begleitung, allmählich aus dem »Hinterhof der Welt« in eine noch unsichere Gegenwart. »Ich sehe nicht viel, weil es dunkel ist«, singt er in »Morgen fängt der Ernst des Lebens an«, aber die Dunkelheit hat ihren Schrecken verloren, weil Freunde und Gefährten, symbolisiert durch die sehnenden, beruhigenden, drängenden, forschen Streichinstrumente, ihn umarmen und geleiten: »Nie wieder allein« lautet das tröstliche, noch mit etwas wackliger, skeptischer Stimme vorgetragene, vorläufige Resümee dieser berührenden Selbsttherapie.

Und das »unsichtbare Meer«, der »endlose Ozean« der Depression? Gegen ihn braucht Knoth nicht mehr anzubrüllen: Er bannt ihn mit kammermusikalischer Romantik, Schönheit und Schwermut in zwei verblüffende Instrumentalstücke. Der Mann hat Nerven. (8.2/10)

Kurz Abgehört:

Sophia Kennedy – »Squeeze Me«

»Drück mich«, heißt das dritte Album der Hamburger Musikerin Sophia Kennedy übersetzt, und damit ist keine zärtliche Umarmung gemeint. Mehr noch als in ihren Songtexten sieht man in den Videoclips der ehemaligen US-Filmstudentin, worum es bei diesem Drücken geht: um ihre Position als alternative Popkünstlerin im zunehmend prekären Musikgeschäft. Im Clip zu »Imaginary Friend« drückt sie sich als Fensterputzerin in einer Hamburger Nobel-Mall die Nase platt, in »Hot Match« spielt sie im dunklen, toxischen Qualm noch tapfer Luftgitarre und schiebt die Feuerwehrleute weg, die retten wollen. Durchhalten, weitermachen – aber die Kräfte schwinden. Haushalten herrscht auch auf »Squeeze Me«: Anders als auf ihrem bisherigen Meisterwerk »Monsters« verzichtet Kennedy auf Zierrat und verspielte musikalische Schnörkel. Ihren spöttisch-lakonischen Sprechgesang lässt sie in Girlanden über strenge, minimalistische Drumcomputerbeats gleiten, die wie immer von ihrem musikalischen Partner, dem Hamburger Elektro-Indie-Pionier Mense Reents, programmiert wurden. Das tut dem bezwingenden Pop-Appeal der neuen Stücke keinen Abbruch, durch die mal toll ein House-Klavier hämmert (»Rodeo«) oder ein Satie-sehnsüchtiges Piano schwebt (»Feed Me«). Kennedys Vortrag dazu wird immer cooler und Grace-Jones-hafter, allerdings wünscht man sich im Verlauf des Albums dann doch, irgendjemand hätte bei den allzu sparsam und spannungsarm dahinpluckernden Backingtracks öfter mal kräftig (oder auch zärtlich) zugedrückt. (7.7/10)

Stereolab – »Instant Holograms on Metal Film«

Der Sound aus diesem nach exakt 15 Jahren Pause wieder in Betrieb genommenen Stereolabor treibt selbst standfesten Antinostalgikern die Tränen der Rührung in die Augen: Kaum nadeln die Elektroniksounds des Instrumentals »Mystical Plosives« durch die Lautsprecher, kaum saust der Flanger-verzerrte Gitarrensound von »Aerial Troubles« von links nach rechts, kaum singt Lætitia Sadier melancholisch-sinnlich wie eine vergessene Yé-Yé- oder Brasilectro-Queen in »Melodie Is a Wound«, schon wähnt man sich zurückkatapultiert in die unschuldige Zeichentrickwelt von »Herr Rossi sucht das Glück« oder »La linea« mit den Soundtracks von Franco Godi. Auch in diesen Siebzigerjahre-Cartoons verbarg sich viel von dem Surrealismus, Situationismus und der marxistischen Kapitalismuskritik, mit denen auch Stereolab bis heute in ihrer politischen Tanzmusik hantieren.

Mit ihrer eklektizistischen Mischung aus Easy-Listening-Expertise, Post- und Krautrock-Gefrickel und Popgespür tänzelten Stereolab Anfang der Neunzigerjahre mit Singles wie »Ping Pong« in den Britpop-Hype, gehörten aber nie wirklich dazu. Die Hochzeit hatte dieser mit Bienenkorbfrisuren, Panton-Plastikmöbeln und Pril-Blumen assoziierendem Retro-Sound am Ende des letzten Jahrtausends. Für Fans wahrscheinlich eine gute Nachricht: Der retrofuturistische Stereolab-Sound hat sich auf diesem sehr schönen und grandios klingenden Comeback nicht groß verändert. Ebenso wenig wie der Hang zu Kunstwerk-artigen Songtiteln wie »Esemplastic Creeping Eruption« oder »Vermona F Transistor«. Vielleicht ist es dieser durch Stile, Räume und Zeiten transzendierenden Band ja doch noch gelungen, etwas Zeitloses zu schaffen. (8.0/10)

Meka – »The Rabbit«

Als radikale Antikapitalistin bezeichnet sich auch die US-Sängerin Melissa Lingo, die vielleicht auch deshalb ihre Heimat für ein nomadisches Hippie-Leben verlassen hat. Aufgewachsen in einer Familie aus Musikerinnen und Musikern in einem kalifornischen Kaff, tingelte die Kinderbetreuerin durch Brasilien und Indien, lebte acht Jahre in Kambodscha und wurde schließlich auf dem Land in der Nähe von Prag sesshaft. Vorerst. Ihr erstes Album als Meka nahm sie allerdings in Schweden auf, zusammen mit dem Produzenten Daniel Bengston (u. a. First Aid Kid). Zuvor hatte sie unter ihrem echten Namen bereits mehrere Alben und EPs mit schönem Singer/Songwriter-Folk veröffentlicht, jetzt spielte sie im Studio erstmals mit einer Band.

Das Ergebnis könnte kaum originalgetreuer nach dem prägenden Siebzigerjahre-Folk aus dem Laurel Canyon von L.A. klingen, obwohl es nun wirklich weit weg von dort entstand: Vielleicht kriegt man die Kalifornierin aus Kalifornien heraus, aber Kalifornien nicht aus ihr. Wer weiß. Jedenfalls klingt Lingo in ihren besten Songs, darunter »Temperance«, das Titelstück, und der »Tomato Song«, wie eine kompetente Interpretin von Joni Mitchells »Court And Spark«-Phase, von denen es freilich viele sehr gute gibt. Als wahres Vorbild, weniger gesanglich als musikalisch, bezeichnet Lingo den britischen Folkpoeten Nick Drake. Auch nicht origineller. Aber trotzdem, vor allem in ausgreifenden Psychedelic-Soul-Exegesen wie »The Tower«, folgt man dieser Neuzeit-Nomadin gern in ihr nostalgisches Rabbit Hole. (7.0/10)

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